Ausstellung 2010 |
Zinganel/Hieslmair DRIVEWAY TRANSIT EXITDie A40 ist nicht nur wichtiger Zubringer für regionale Pendler, Lieferanten und Monteure im Ruhrgebiet, sondern auch eine bedeutende Ost-West-Verbindung für den internationalen Fernverkehr von der Ukraine bis zu den Häfen in Holland und Belgien. Für viele Berufsfahrer und Pendler stellt die Shell-Station an der A40 nicht nur eine Tankstelle dar, sondern Arbeitsplatz, Schlafplatz, sozialer Knotenpunkt und Nahversorgungszentrum. Überraschend international zeigt sich aber auch die unmittelbar an die Raststätte angrenzende Kleingartenanlage. Hinter der Lärmschutzwand finden sich unter anderem „Gastarbeiter“ der ersten Generation, die in ihrer Pension ein Stück deutschen Kleingartens erobert haben, oder jüngere Zuwanderer, die erfolgreich in einen Kleingarten einheirateten. In ihren Lebenswegen, die ebenso weit reichen, wie die des internationalen Warenverkehrs, bildet sich daher ein Stück deutscher Migrationsgeschichte ab. PLATZWECHSEL Aus Beobachtungen und Interviews mit Akteuren auf der Tankstelle und in der Kleingartenanlage wurden zwei dreidimensionale Wegenetz- und Audioinstallationen entwickelt, die jedoch vorsätzlich am jeweils anderen Standort installiert sind: Dem Stress und dem Lärm der Verkehrsachse und der Unverbindlichkeit und Anonymität im Tankstellencafé wird so die private Idylle und Intimität des Kleingartens entgegengesetzt – zwei Zonen, die gewissermaßen durch ein magisches Tor in der Lärmschutzwand gleichzeitig getrennt und verbunden sind. INTERNATIONALE KLEINGARTEN-GEMEINSCHAFT AUF DER AUTOBAHNSTATION Auf dem Parkplatz der Shell-Station an der A40 werden die Migrationswege der Kleingärtner nachgestellt: Jedem der acht Akteure ist eine abstrahierte „Spur“ vom Ausgangspunkt seiner Reise bis in die Kleingartenparzelle zugeordnet. Die acht Wege, über dem Boden schwebende Holzbalken, auf denen die Namen des jeweiligen Herkunftsortes angebracht sind, laufen auf einen gemeinsamen Kreuzungspunkt zu. In diesem fiktiven Ausschnitt der Kleingartenanlage, der mit einem Flickenteppich aus Nationalflaggen der Herkunftsnationen überdeckt ist, werden aus acht Hochbeeten über eingebaute Lautsprecher die individuellen Wege nacherzählt. Hier hören die Besucher beispielsweise von den Migrationserfahrungen von Lailani, 72, die 1970 mit bereits 32 Jahren im Rahmen eines Anwerbe- Programms für Krankenschwestern und Pflegepersonal aus Manila nach Deutschland kam; von Miguel, 64, der 1971 noch zu Zeiten der Franco Diktatur als sogenannter Gastarbeiter in Spanien angeworben wurde, von Ayse, 63, die 1972 mit ihrem Mann, einem türkischen Gastarbeiter aus der Türkei, nach Deutschland kam, von Dunja, 52, die 1979 aus Banja Luka kam, von Jamal, 36, der 1986 im Alter von zwölf Jahren mit seiner Mutter und seinen Geschwistern zu seinem Vater nach Deutschland zog, oder von Bozena, 42, die noch 1989 mit 21 Jahren mit einem Touristenvisum aus Schlesien einreiste und blieb – und auf welche Weise sie alle schlussendlich zu ihrem kleinen Stück Garten gekommen sind. TANKSTELLEN-URBANISMUS IN DER KLEINGARTENANLAGE In der Kleingartenanlage Am Dückerweg e.V. hinter der Lärmschutzwand wird ein Wegenetz von typischen „Stammkunden“ der Shell-Station an der A40 dargestellt. Die Installation liegt an einem internen Erschließungsweg, der parallel zur realen Autobahntrasse verläuft. In seinem Zentrum steht der Knotenpunkt der Tankstelle, vom dem aus sieben Wege ausgewählter Berufsfahrer und Pendler wegführen, sodass sie deren geografische Routen auf und abseits der A40 abbilden. Das Wegenetz besteht hier aus gebogenen Aluminiumrohren und die einzelnen Erzählungen werden über Kopfhörer vermittelt. Die Besucher hören einen Nachrichtensprecher in sachlichem Tonfall die jeweiligen täglichen Wege von Ann E., 34, erzählen, der Tankstellenpächterin, sowie von Werner H., 43, der täglich Richtung Düsseldorf pendelt und wie viele andere versucht noch vor der Staugefahr der morgendlichen Verkehrsstoßzeit einen Kaffee einzunehmen, von Heinrich F., 52, der sich mittags immer mit seinen Kollegen trifft, nachdem er Fleisch und Wurstwaren vom Fleischhof in Essen ausgeliefert hat, von Ronny P., 34, einem Monteur aus Leipzig, der mehrmals wöchentlich nachmittags vorbeikommt, auf der Tankstelle duscht, die Büroarbeit im Bus erledigt und dann hier übernachtet. Oder von Jan P., 46, der Opel Zafira vom Werk in Bochum zum Hafen in Zeebrügge überführt, von Kryztof W., 51, einem polnischen Kleintransporterfahrer oder von Wanja K., 39, einem Lastwagenfahrer aus der Ukraine, der hier seine Wochenenden verbringt – mitunter aber auch tagelang an der Station festhängt, wenn er auf neue Ladung warten muss. Formal orientieren sich die schwebenden Wegenetze an jenen über den Städten schwebenden oder sie durchdringenden Megakonstruktionen, die in den Stadt-Utopien der 1960er Jahre populär wurden (Friedman, Constant usw.). Sie zeigen hier allerdings weder psychogeografische Wanderungen noch Visionen oder Utopien, sie zeigen auch keine sozialen Extremsituationen, sondern schlichtweg den Alltag von sozialen Akteuren in wichtigen Dienstleistungssektoren: Das die Kleingartenanlage rhizomartig durchziehende System aus Heizungsrohren repräsentiert nicht nur einen Ausschnitt der technischen, sondern vielmehr einen Ausschnitt der sozialen Infrastruktur des Ruhrgebiets bzw. ganz Europas, in dem eine Vielzahl an Akteuren mit migrantischem Hintergrund– oder mit sehr, sehr weiten Wegen – ihrer Arbeit nachgehen. Die solide Skulptur auf der Tankstelle ist zum einen ein Sitzmöbel für Autobahnbenutzer und zum anderen ein räumlich versetztes temporäres Wahrzeichen für eine Kleingartenanlage, deren Nutzern gemeinhin eine gewisse „Unbeweglichkeit“ unterstellt wird. Doch auch hier entstehen aus Ansässigen und Zuwanderern lokal neue Gemeinschaften oder auch transnationale Netzwerke und Loyalitäten. Das Baumaterial der Installationen geht nach Ende der Ausstellung in den Besitz der Kleingärtner über: Die Aluminiumrohre eignen sich vortrefflich als Bohnenstangen und Spalierobstgerüste, die signalgelben Holzbalken für Renovierungen und Erweiterungen der Häuschen und die Schriftzüge mit den Herkunftsbezeichnungen der Kleingärtner werden zur Dekoration eingesetzt: Nach dem Verbleib von Banja Luka,… und anderen hatten die Kleingärtner schon am ersten Tag der Ausstellung gefragt. Die vollständigen Audiospuren finden Sie als MP3 online unter: http://hieslmair.him.at/ 2010/06/06/a40-driveway/ |
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