Die flüchtige Beziehung zwischen Landschaft, Ort und Fahrer bedingt nicht nur seine latente Unaufmerksamkeit gegenüber dem Teil der Straße, der sich eben als Ort versteht. Während die Straße für ihre Anwohner einen problematischen Lebensraum darstellt, erzeugt sie beim Reisenden äußerst wenig Identifikation mit dem Ort selbst. Im Gegenteil: gerade die Ungebundenheit – oder vielmehr – Losgelöstheit von Begriffen wie Identität, Identifikation und Heimat macht die Straße im Auge des Reisenden, des Passagiers, des flanierenden Fahrers mehr als attraktiv. Sie bietet die Möglichkeit eines perfiden Spiels mit der eigenen Identität. Auf der Straße als endlosem Interimsraum verliert sich der Reisende im Spiel der Wünsche, Vorstellungen und Möglichkeiten.
Im Niemandsland zwischen den Identitäten ist das Motel vielleicht der Raum, der all diese Spiegelungen am intensivsten aufnimmt. Ein Durchgangsort par excellence, an dem sich die Wege der Passagisten, der geheimen Liebespaare, der glücklosen Spieler und der gelangweilten Handlungsreisenden kreuzen. Keiner fragt nach dem Namen und bezahlt wird im Voraus, wo mancher, der den Sonnenaufgang scheut, schon weg ist, bevor er richtig angekommen ist. Das Motel – ein fantastisch-glückloser Ort im Niemandsland der Zwischenräume, wo alles denkbar, vieles möglich und nichts beständig ist.
Im „Motel Bochum“ haben diese Träume einen adäquaten Raum gefunden. Im Bermudadreieck der Gewerbeagglomeration am Dückerweg, wo der Autotuner D&W mit viel nackter Haut wirbt, wo jeden Freitag das 241 informelle Tunermeeting stattfindet und der Ort von den diversen Ausschweifungen im Schatten der Autobahn umspült wird, hat AVL eine „Agglomeration in der Agglomeration“ realisiert, die die Spekulationen über das, was an solch unsteten Orten vor sich geht, mehr als vervielfacht. Was sich in verschiedenen mobilen Einheiten, temporären Architekturen und Überseecontainern zu einem ganzen Dorf auf Wiesen und Parkplätzen schart, bietet nicht nur reale Übernachtungsmöglichkeiten für den müden Pionier des Stadtraums A40. Neben dem fast schon luxuriösen Farmhaus mit „Multi-Women-Bed“, Küche und Herd, und dem für Gruppenreisen angemessenen Schlafraum im Hänger „The Good, the Bad and the Ugly“, neben den dem Hardcore-Pionier vorbehaltenen „Pigsheds“ und dem romantischen Schafstall mit Übernachtung im Heu bietet AVL einiges an Entspannungs- und Unterhaltungseinrichtungen, die ambivalent und subtil auf die erotischen Aspekte des Straßenraums hinweisen. Der „Minisadist“ im heimeligen Strohambiente des Stalls legt dem Besucher dann doch Praktiken der Entäußerung nahe, die nicht jedermanns Sache sind. Die Laokoon-Gruppe im Außenbereich zeigt zudem deutlich, dass sorgsames Miteinander auch unerwartete Richtungen einschlagen kann.
Bei all diesen Angeboten, deren künstlerische Formulierungen im Umfeld des Dückerwegs gewagt nahtlos in die örtliche Realität übergehen, steht im Zentrum dieser künstlerischen Agglomeration das „Pioneer-Set“. Die Pioniereinheit, die sich in nur einem handelsüblichen Seecontainer in die ganze Welt verschiffen lässt, um sich dort invasiv als komplette Farm zu entfalten, holt das erotische Spiel zurück auf den calvinistischen Boden der Tatsachen. Natürlich ist ein Multi-Women-Bed für den Farmer auf fremdem Territorium nicht eine erotische Spielwiese, sondern produktives Muss für die Zeugung eines wetterfesten Stammes. Und derjenige, der die Komposttoilette neben dem Hasenstall (libidinöses Vorbild wie konsequente Fleischproduktion …) und das Verrichten des Geschäfts in vier Metern Höhe als exhibitionistisches Spiel lesen will, wird in Anbetracht des ökonomischen Nutzens der vorgeführten Kompostierungsprozesse trocken auf den perfiden Verlauf der Energieverwertung verwiesen. Dieses subtile Spiel zwischen Entäußerung und Wirtschaften, die feingliedrigen Hinweise auf die Zusammenhänge zwischen einer profanen Ökonomie gerade auch holländisch-calvinistischer Tradition und den entgrenzenden Elementen erotischer Exuberanzen bedingt die humor- wie lustvolle Beschäftigung von AVL mit allen Bereichen der menschlichen 244 Bedürfnisse im Raum des permanenten Verkehrs.
Dass die Begegnung der dritten Art zwischen der Klientel des Dückerwegs, dem Tunermeeting und dem künstlerischen Projekt „Motel Bochum“ so hervorragend nachbarschaftlich verlief, ist sicher verschiedenen Faktoren geschuldet. Die gesuchte Konfrontation der Sprache von AVL mit den überformten Boliden der Tuningszene hatte in dem wohltemperierten Nebeneinander einen hohen gegenseitigen Respekt zur Folge, in dem das Verhältnis von offener Neugier geprägt war. Das gut vermittelte Auftauchen des Motels am angestammten Platz der Szene entwickelte sich als überaus angenehmes Miteinander. Und das nicht nur, wenn Angie Lexx als Botschafterin von D&W an der Poledance-Stange auf der moteleigenen Bühne zeigte, dass man sich nicht unbedingt ausziehen muss, um eine mehr als erotische Show hinzulegen. Über die Tage entwickelte sich eine verständige Sprache zwischen Kunst und Tuning, Kultur und Subkultur, bei der auch schon mal Unmut über zu laute Musik (die Szene trifft sich, um sich zu unterhalten …) mit einem ordentlichen Burn-out kommentiert wurde. Am Ende der Begegnung standen dann ganz und gar gemeinsame Aktionen wie die Wahl der „Schönheit der großen Straße“ (natürlich ein Auto … siehe Programm) in Kooperation mit D&W oder ein nachbarschaftlicher Besuch von den Tunern in der Kleingartensiedlung wie vice versa.
Das „Motel Bochum“, das vielen Übernachtungsgästen einmal hautnah vermittelte, was es heißt, an der A40 zu wohnen, wurde zum vital umspülten Zentrum der Ausstellung, indem es sich direkt in seinem Umfeld sensibel akklimatisierte. Dass mehr oder weniger provokante Formen wie die mit Sichtfenster ausgestattete Komposttoilette oder die SM-Einheiten im Freiluftbereich von den Protagonisten des Ortes sehr offen und mit viel Humor aufgenommen wurden, weist auf die unendlich zugängliche wie tolerante Haltung der Szene hin. Hier muss nochmals die schon zitierte soziale Kompetenz derer in den Vordergrund gestellt werden, die stets um Akzeptanz für sich und ihren Ort kämpfen müssen, an dem sie seit nunmehr 15 Jahren ihr halblegales, informelles Treffen abhalten. In der steten Gewöhnung an labile Verhältnisse entsteht offensichtlich auch bei der Tunergemeinde ein subtiles Verständnis für stets neu auszuhandelnde Nachbarschaftsverhältnisse und die Akzeptanz verschiedenster Interessenslagen und Bedürfnisse.