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Ausstellung 2014

     

Konzept

B1|A40 DIE SCHÖNHEIT DER GROSSEN STRASSE

ABSTRACT
Entlang der A40 hat sich im Schatten der Kernstädte ein eigenwilliger Stadtraum generiert, der durch das Verschmelzen der Ruhrstädte zur Metropole unvermittelt vom problematischen Verkehrsraum zum Boulevard der Ruhrmetropole wird. B1| A40 untersucht diesen neuen Stadtraum im interdisziplinären Dialog mit Künstlern, Planern, Architekten und Wissenschaftlern. Die Ergebnisse dieser Arbeit manifestieren sich in einer Ausstellung entlang der A 40 zur Kulturhauptstadt Ruhr 2010. Sie findet vom 12.06.2010 - 08.08.2010 auf der A 40 von Duisburg bis Dortmund an verschiedenen Spielorten statt.


B1|A40 EINE STADT ENTWIRFT SICH SELBST
Entlang der A40, als der zentralen Verkehrsachse des Ruhrgebiets, hat sich im Schatten der Kernstädte zwischen Duisburg und Dortmund ein eigenwilliger Stadtraum generiert. Er wird durch das prognostizierte Verschmelzen der Ruhrstädte zur Metropole unvermittelt von der Peripherie zum Zentrum werden. In dieser einmaligen Umkehrung wird die „Große Straße“ vom problematischen Verkehrsraum zum Boulevard der Ruhrmetropole.

Analog dazu erscheinen Räume und Strategien im Umgang mit urbanen Situationen im Fokus, die sich dezentral im Schatten des öffentlichen Interesses entwickelt haben und bisher kaum beschrieben wurden. Nicht nur transitorische Räume prägen dabei einen neuen Typus von Stadt zwischen Mobilität, Dezentralität und Ort. Strategien der individuellen Raumaneignung und selbstregulierte soziokulturelle Biotope in den Zwischenräumen von Stadt und Verkehrsinfrastruktur sind nur einige Phänomene, die diesen Raum umschreiben. Schrebergärten und Einkaufsmeilen, Kulturproduktion und Schattenwirtschaft, Fischzucht und Tunertreff – sie alle nutzen die große Straße als Infrastruktur, Plattform, breiten Rücken. Das Projekt „B1|A40“ befragt diese Raumgefüge auf ihre Strukturen und deren Bedingungen hin: Wie generieren sich Räume jenseits zielgerichteter Planungsinteressen und Nutzungszuordnungen? Welche Räume entstehen unter den Bedingungen weitgehender Unsichtbarkeit und relativer Selbstverantwortung ihrer Protagonisten? Wie wirkt sich das Fehlen politischer Aufmerksamkeit auf die Gestaltung von Räumen aus? Entwickeln sich andere Ökonomien unter diesen speziellen „klimatischen“ Bedingungen? Bieten selbstregulierte Räume auch übertragbare Lösungsvorschläge für die Planung und welche Vermittlungsleistungen sind hier notwendig?

B1|A40 untersucht diese Fragen im interdisziplinären Dialog mit Künstlern, Planern, Architekten, Wissenschaftlern und den Anliegern vor Ort direkt im Kontext des Stadtraums A40. Das Projekt zeigt durch künstlerische Interventionen und interdisziplinäre Projekte Perspektiven und Handlungsmöglichkeiten auf, die in einen stadtplanerischen Diskurs einmünden sollen, der progressive Entwicklungen für diesen problematischen Raum produziert. Die Ergebnisse dieser Arbeit manifestierten sich in einer Ausstellung im öffentlichen Raum der A40 von Duisburg bis Dortmund an sechs verschiedenen Orten zur Kulturhauptstadt Europas RUHR.2010 vom 12.06.2010 - 08.08.2010 mit umfangreichem Programmteil. Das nun vorliegende Buch dokumentiert nicht nur diese Arbeit und ihre nahezu fünf Jahre lange Genese vom Leitprojekt der Kulturhauptstadtbewerbung bis zur Ausstellung, sondern setzt sie in Beziehung zu theoretischen wie faktischen Arbeiten, in deren Umfeld sich das Projekt sieht.

Um dem Großraum A40 trotz der knappen Mittel in seiner Komplexität gerecht zu werden, wurden an sechs Orten in fünf Städten solche Typologien gewählt, die exemplarisch für das gelten müssen, was B1|A40 diskutieren wollte: als „Neue Landschaften“ im Duisburger Autobahnkreuz Kaiserberg, als neue Ökonomien unter dem Titel „Globalokal“ im Rhein-Ruhr Zentrum Mülheim, den Umgang mit Historie unter dem Dach der „Neuen Geschichte“ am Wasserturm in Essen und dem Westfalendamm in Dortmund und als kulturelle Schnittstellen im Fokus transitorischer Räume unter dem Titel „Roadmovie Ruhr“ in Bochum. Die Bemühung, die Ausstellung gut sichtbar zu machen, führte zu einer Konzentration verschiedener Arbeiten an diesen Orten – gleich Ausstellungen in der Ausstellung. Im Bereich „A40 Spezial“ integrierte das Projekt Orte, Entwürfe und Bauten der Anwohner auf Augenhöhe in die Ausstellung.

RUHRSCHNELLWEG Verkehrsräume wie die der A40, die unter dem Namen „Ruhrschnellweg“ berühmt-berüchtigt sind, gehen nicht aus einer langfristigen Gesamtplanung hervor, sondern entwickeln sich langsam entlang der städtischen Bedürfnisse. Wo niemand eine Autobahn direkt durch das engmaschige Herz der Städte schlagen würde, hat sich die ehemalige B1 als die Städte verbindende Landstraße und alter Handelsweg „Hellweg“ langsam zur Autobahn ausgewachsen. Dies begründet ihre außergewöhnliche Form, die tief in das urbane Geflecht der Ruhrstädte einschneidet und in ihrem Umfeld mannigfaltig problematische Nachbarschaften produziert. Wo Menschen nur wenige Meter hinter der Schallschutzwand leben, wo Abfahrten im 100-Meter-Takt die große Straße von Nowgorod nach Brügge kurzfristig zur Stadtautobahn machen, wo die Härte globalen Transits auf sympathisches Lokalkolorit trifft, entwirft sich ein urbaner Raum außergewöhnlicher Heterogenität. In der Anbauverbotszone leben hier Abertausende, befinden sich Geschäfte, Kindergärten und Kneipen, Schrebergärten und Wagenburgen, die Hochhäuser der Hochfinanz wie Fischteiche und Tierfriedhöfe, Kirchen und Rotlichtmilieu, alles in trauter Eintracht.

Die Autobahn ist eine Zäsur, ein tiefer Schnitt, an deren Rändern sich die Stadtlandschaft auftut und ungewöhnliche wie schmerzhafte Einblicke erlaubt, die mit Lärmschutzwänden mühsam kaschiert werden. Noch heute vertilgt sie gerade aktuell durch den dreispurigen Ausbau ihr Umfeld.

Entlang der großen Straße manifestiert sich auf über 70 Kilometern ein elementarer Interessenskonflikt zwischen transitorisch-temporären Räumen und der Verbindlichkeit des Ortes. Der Transit erzeugt bei den Nutzern der Verkehrskorridore wenig Identifikation mit dem Ort an sich, was ihn als urbanen Raum schnell verwaisen lässt. Er wird meist nur von denjenigen besiedelt, deren Wohnsituation eines Tages unvermittelt mit dem Bau der Autobahn konfrontiert wurde und die ihn hartnäckig als Heimat behaupten. Neben diesen Menschen, die sich in einer Art Selbstverteidigung mit diesem Raum arrangiert haben, beherbergt er gerade solche Nutzungen, die im normalen Gefüge der Stadt nicht vorgesehen sind. So entsteht im Windschatten einer rein auf den Verkehr fokussierten Planung ein Feld heterogenster und teilweise schwierigster Nachbarschaften, das auch die Stadtplanung vor unlösbare Probleme stellt und das ökonomische, öffentliche und politische Interesse gegen Null sinken lässt. Das latente Desinteresse an diesen Räumen erzeugt mitten in der Stadt ein Vakuum an staatlicher Organisation und Präsenz, Perspektive und koordiniertem Gestaltungswillen. Einen Raum also, in dem die Kontrolle teilweise so stark sinkt, dass nahezu rechtsfreie Zonen entstehen, die geduldet werden, um ihn zumindest unter minimaler Besiedlung und unter sozialer Kontrolle zu halten. Positiv gewendet, könnte man solche Räume auch als Labor für selbstverantwortliches Handeln bezeichnen. Überraschenderweise werfen diese sehr unvollständig regulierten Räume nicht die blanke Anarchie aus, sondern eine charmante, oft eher bürgerlich geprägte Selbstregulierung heterogenster Interessensgruppen.

INTERESSE Die Ausstellung interessiert sich speziell für solche Orte und Systeme, die jenseits herkömmlicher Planungen Methoden im Umgang mit problematischen Stadträumen finden. Entlang der A40, wo sich aus dem Umstand mannigfacher Diskontinuitäten und Einschnitte ein von Verwerfungen, Falten und Narben geprägter Raum ergeben hat, wird die Autobahn als aktives Subjekt sichtbar, das Stadt generiert. Als ein Subjekt, das auf seiner Rückseite im Schatten politisch-ökonomischer Interessen urbane Sequenzen höchster Heterogenität und Dichte produziert. Entgegen urbanen Objekten, die sich politisch und wirtschaftlich nutzen lassen, entzieht sich der Rückraum der Autobahn durch mannigfach undurchsichtige Vielschichtigkeiten der Objektivierung und Nutzbarmachung in der städtischen Ökonomie. Die vermeintlich zerstörte Landschaft produziert sich als Widerlager, als selbstbeauftragt-autonome Zone der Stadt, die eine neue urbane Zukunft erprobt.

Im Unterschied zum Zentrum werden solche Räume von ihren Protagonisten in direkter Interaktion mit den Situationen ausgeworfen. Die Unmittelbarkeit von Reaktion und Aktion widerspricht perspektivischen Organisationsstrategien, zeigt aber unerwartete Erfolge beim Umgang mit problematischem Stadtraum, da sie sich an der Fluktuation und Unbeständigkeit orientiert. Sie bedingt eine neue, lose Formensprache solcher Orte wie auch ihren Einfallsreichtum in der Entwicklung temporärer Lösungen. Sie konstituieren sich aus unzähligen, heterogenen und individuellen Handlungssträngen heraus, die ineinander verflochten zu einem tragfähigen Netzwerk selbstgenerierter Lebensstrategien werden. Dieses lose wie solide Netzwerk der Anlieger wurde zentraler Bestandteil und Boden der Ausstellung. Sie verknüpfte sich mit den Akteuren vor Ort, um sich in einem synergetischen Verhältnis auf Augenhöhe zu treffen, zu informieren, zu inspirieren. Die Entwürfe dieser Landschaft waren Ausgangspunkt, Spiegel und Partner der Projekte, die die Künstler zwischen sie einfügten.

ANHALTEN, AUSSTEIGEN, NACHFRAGEN Um sich diesen Räumen zu nähern, muss man anhalten und aussteigen. Diejenigen, die in froher Erwartung eines „Parkway A40“ einen kommoden Ausstellungsbesuch in der wohltemperierten Isolation der eigenen Fahrgastzelle erwarteten, wurden enttäuscht. „B1|A40 Die Schönheit der großen Straße“ forderte dazu auf, sich das schwierig-schöne Leben hinter der Schallschutzwand zu erlaufen. Die Dominanz des Fahrens wurde für zwei Monate gebrochen durch ein virulentes Ausgesetztsein im Kontext der großen Straße. Ein beunruhigend-anregendes Treffen von Mensch und städtischer Realität, die ihre Härten und magischen Momente, ihre Brüche und Genüsse en direct und eins-zu-eins als sinnliches Ereignis mitteilt, das nicht nachträglich zu vermitteln ist. Die vernakuläre Landschaft lebt wie keine andere aus dem Hier und Jetzt, aus der Anwesenheit und dem Ort, aus der physischen Präsenz ihrer Kontraste und dem direkten Gespräch.

NEUE LANDSCHAFTEN | AUTOBAHNKREUZ KAISERBERG Eine solche Landschaft findet sich exemplarisch im Umfeld des Autobahnkreuzes Duisburg-Kaiserberg. Hier choreografiert einer der größten Verkehrsknoten der Region einen Raum ungeahnter Komplexität. Die aufgeständerten Querverbindungen, die alle einzeln formuliert sind und dem Kreuz auch den Namen „Spaghettiknoten“ einbrachten, lassen verschiedene Teilräume entstehen, in denen sich Nutzungen angesiedelt haben, die ganz und gar nicht zum Bild der Autobahn passen: Zoo und Schrebergarten, Ponyhof und Fischfarm, Feuchtbiotop und Wagenburg, Landwirtschaft und Dorfidylle sammeln sich hier in nachbarschaftlicher Eintracht unter dem sonoren Lärm der Autobahn.

Solche Landschaften entstehen aus lokalen Einflüssen und den kulturellen Prägungen ihrer Protagonisten. Sie können weder erdacht noch prognostiziert werden, sondern ergeben sich vielmehr. John Brinckerhoff Jackson nutzt für diese Landschaften den Begriff des Vernakulären: „Es sind Landschaften, deren Bewohner keine Monumente hinterlassen, sondern nur Zeichen des Aufgebens oder Erneuerns. Mobilität und Wandel sind die Schlüssel zur vernakulären Landschaft, aber eher unfreiwillig und widerstrebend. Sie sind nicht Ausdruck von Ruhelosigkeit und Suche nach Verbesserungen, sondern vielmehr von einer nicht enden wollenden, geduldigen Anpassung an die Umstände.“

Brinckerhoff Jackson zeigt, dass in unserer Vorstellung negativ konnotierte Begriffe wie „Aufgeben“, „Anpassung“, „Ignoranz“, „Abwesenheit langfristiger Ziele“ oder das „Fehlen historischen Bewusstseins“ hier im positiven Sinne gewendet und zur Strategie werden können. Sie schaffenan diesen Orten eine Landschaft „ohne sichtbare Zeichen der politischen Geschichte“, eine „Landschaft ohne Gedächtnis“3, die sich aus sich selbst heraus aktualisiert.

EIN INFORMELLER LANDSCHAFTSPARK Die künstlerischen Arbeiten gehen hier eine enge Liaison mit den vorhandenen Entwürfen ein. Neben einem speziell für das Projekt „B1|A40“ angelegten Wanderweg, der durch den neu proklamierten „Landschaftspark Kreuz Kaiserberg“ führt, widmet sich Jeanne van Heeswijk in ihrem Projekt den Anwohnern, die sich als Siedler schon lange gegen die Autobahn stemmen und ihr vollkommen eingeschlossenes Dorf als Heimat verteidigen. Die Kirche als verbindendes Zeichen und Treffpunkt der Gemeinde zu retten, war erklärtes gemeinsames Ziel. Van Heeswijks temporäres Gemeinschaftszentrum in Form einer gigantischen runden Tafel wurde zum gemeinschaftsstiftenden Projekt zwischen Siedlern, Künstlern und der vorbeiwandernden Öffentlichkeit, zur politischen Bühne, zu Partytisch und Biergarten.

An der Pumpstation mitten im Autobahnkreuz Kaiserberg produziert die Gruppe Finger aus Frankfurt Honig. Eine halbe Million Helfer des Projekts tragen nicht nur ein hochwertiges Produkt ein, sondern geben Aufschluss über die Flora im Umfeld des Verkehrsweges. Die Honiganalyse lässt minutiöse Rückschlüsse auf den Pflanzenbestand im Umkreis von zehn Kilometern zu, der den Bienen als Tracht dient. Das Autobahnkreuz erwies sich dabei als florales Artenreservoir ungeahnter Vielfalt.

GLOBALOKAL | NEUE ÖKONOMIEN Die vielschichtige Arbeitsweise der Gruppe vermittelt Anschluss nicht nur zum nächsten Projektstandort, sondern auch zu einem weiteren Thema dieser neuen „Landschaft Autobahn“. Im Mülheimer Rhein-Ruhr Zentrum (RRZ) präsentiert sich das erste Einkaufszentrum Deutschlands „auf der grünen Wiese“ als ambivalenter Meilenstein der Stadtentwicklung. Vielleicht folgerichtig im Ruhrgebiet, in dem vormals Stadtzentren oft durch Produktionsstandorte der Industrie besetzt waren, verlagert es den Marktplatz aus dem Herz der Gesellschaft in den betriebsamen Randbereich der ökonomischen Stadt. Im permanenten Fluss der dezentralen Stadtlandschaft Ruhr vertauschen sich jedoch die Begriffe von Zentrum und Peripherie in einem steten Wechselspiel wie die Verhältnisse von global und lokal. An Rastplätzen, in Einkaufszentren und Wohngebieten trifft aufeinander, was sonst getrennt ist. Die Straße wird zum ambivalenten Vermittler und Paten globalokaler Begegnungen.

Hier entstand bei B1|A40 eine Ladenstraße der besonderen Art. Wo sich im Schatten der Autobahn gerade aus dem Aufeinandertreffen lokaler und globaler Ökonomien heterogenste Nachbarschaften ergeben, sehen sich die Global Player in einer improvisierten Shopping-Mall mit lokaler Individualproduktion konfrontiert, wie dem Honig der Gruppe Finger aus dem nahen Autobahnkreuz. Die örtlichen Entwürfe konkurrieren dabei nicht auf wirtschaftlicher, wohl aber auf ideologischer Ebene. Die Imkerei als selbstgenerierte Geschäftsidee, der Selbstversorger als subtile Zwischenökonomie und die Fischzucht im eigenen Auftrag entwerfen Lebensalternativen, die zudem wohlschmeckend daherkommen.

Eine dieser neuen Zwischenökonomien propagiert das Pferd als alternatives Verkehrsmittel und bildet eine Klammer zwischen den in loser Folge sich abzeichnenden Typologien dieses speziellen Stadtraums. Das Projekt „Esso 36“ von Andreas Wegner bietet einen Warenlieferservice zwischen RRZ und den Wohnorten seiner Klientel an. Die Kutsche, die entlang der großen Straße durch prekärste Wohnsituationen, Landschaftsschutzgebiete, markante Zentrumslagen und skurrile Gewerbegebiete zieht, artikuliert die manchmal wahllos erscheinende Raumfolge gleich einer filmischen Sequenz.

NEUE GESCHICHTE Am Wasserturm in Essen und in Dortmund, wo die A40 kurzfristig zur Landstraße wird, formulieren sich zwei Orte konträr zur vernakulären Landschaft als Stadtquartiere mit historischer Bedeutung. Christoph Schäfer geht in zwei Projekten der Frage nach, wie sich Geschichte konstituiert und welche Auswirkungen unser Glauben an ihre letztendlich nur vermittelte Wirklichkeit hat. Am Beispiel der Roten Ruhr Armee zeigt er, wie sie instrumentalisiert und gegen politische Gegner eingesetzt werden kann, um der Frage nachzugehen, wie sich eine Idee wie die der Roten Ruhr Armee entwickelt hätte, wenn sie nicht diskreditiert und bekämpft worden wäre. Geschichte aktualisiert sich dabei, um als aktiv operierender Körper in der Gesellschaft sichtbar zu werden und den Stadtraum auf seine Erinnerungs- und Zukunftsfähigkeit zu befragen.

ROADMOVIE RUHR Die lose, wie auch eigensinnig produktive Choreografie der Stadtlandschaft A40 wird dann zum Nukleus eines Ruhrgebiets, das sich nur aus sich selbst heraus erneuern kann, wenn sich an Orten außerhalb offizieller Aufmerksamkeit ungeahnte Potenziale von Gestaltungswillen, sozialer Kompetenz oder der subtile Mut zur Erneuerung auftun und unbemerkt durchsetzen. So könnte die Geschichte eines Ortes wie der Gewerbeagglomeration Dückerweg (mit eigener Autobahnabfahrt) im ambivalenten Aushandlungsprozess der Verteilung von Räumen auf verschiedene Weise gelesen werden. Wo die ehemalige B1 zur Autobahn wurde und sich beide Seiten durch die markante Zäsur vollkommen unterschiedlich entwickelt haben, führt diesmal ein städtischer „Wanderweg“ von der einen zur anderen Seite. Er zeigt nicht nur, wie die Autobahn immer mehr urbanen Raum vertilgt, sondern wie sie immer wieder neue Diskontinuitäten in die Stadt einschreibt.

Auf herkömmlichen Werbeflächen zeigt der Künstler Peter Piller die merkwürdige Wirkung dieser strikten Trennung, indem er beide Seiten fotografisch voneinander informiert. Seine Arbeiten zeigen auf der einen Seite der Autobahn die Aufnahmen der anderen. Wo auf der einen der größte Autotuningshop Deutschlands, D&W, mit viel nackter Haut wirbt und seine Klientel beim wöchentlichen Tunermeeting ihren gesammelten Gestaltungswillen in Lack, Polyester und Pferdestärken formuliert auffährt, findet sich auf der anderen Seite zwischen Friedhofsidylle und Straßenbegleitgrün eine malerische Schrebergartenkolonie, in der alle Kontinente der Welt vertreten sind. Während sich die Autofreunde bei Grill, Wasserpfeife und Basswummern über die neuesten Möglichkeiten austauschen, einen herkömmlichen Kadett in eine futuristische Vision zu verwandeln, verbünden sich die Gärtner in unmittelbarer Nachbarschaft zur Raststätte mit ihren Transitgenossen aus Russland und der Ukraine, die ihre Nächte nebenan im Truck verbringen. Die globalokale Nachbarschaft mündet nicht nur dann in sozialer Kompetenz, wenn des Winters bei Heizungsausfall die Trucker schon mal rüberziehen und den Bullerjahn (Holzofen) im Gartenhaus anwerfen – natürlich mit Erlaubnis der philippinischen Gärtnerin …

Das Wiener Team aus Architektur und Stadtplanung Zinganel/Hieslmair zeichnet in seinen verräumlichten Diagrammen hier nicht nur die globalen Bewegungen auf, die eine Raststätte zum Schnittpunkt zwischen internationalen Ökonomien und kulturellen Praktiken werden lässt, sondern setzt sie in Beziehung mit den lokalen Begebenheiten wie der internationalen Gärtnerschaft hinter der Schallschutzwand, die durch ihre Tätigkeit sowohl den Randbereich des prekären Verkehrsraumes unter sozialer Kontrolle halten als auch unbewusst ein internationales Kulturnetzwerk informeller Art herstellen.

Martin Pfeifle stellt den Truckern aus Osteuropa zudem eine eigene Architektur gegenüber. Wo sich an der letzten auf der Strecke verbliebenen Raststätte am Samstag ganze Dörfer aus Containern und LKWs ergeben, deren Bewohner hier das Wochenende verbringen müssen, türmt er verlorene Ladung zu einer fragmentierten temporären Architektur auf, die wie eine Ikone der losen Verbände, der Agglomerationen und mobilen Warenlager entlang der Autobahn wirkt.

Das Projekt bietet das Drehbuch zum „Roadmovie Ruhr“, wenn Künstler in diesem Kontext direkt vor Ort Arbeiten entwickeln, die solche Zusammenhänge nachvollziehbar machen. Die Stadt entwickelt sich als Choreografie filmgleicher Sequenzen, die sich zwischen Orten und Autos zur Erzählung verdichtet. Die Straße als roter Faden, Timeline und Drehbuch zum großen Kino des Realen.

Neben dem eigens für die Ausstellung eingerichteten Autokino finden sich Formate wie das „Motel Bochum“ von Atelier van Lieshout auf dem Parkplatz am Dückerweg, das zu den temporären Orten dieses Stadtraums eine exemplarische Beziehung unterhält. Am Ort des legendären Tunermeetings, das jeden Freitag das Motel umspült, leisten sie zudem einen Verständnistransfer, der die fachspezifischen Diskurse von Kunst und Planung verlässt, um einen ungezwungenen Austausch mit dem Kontext A40 zu ermöglichen. Hier kann der müde Pionier der A40 hautnah erleben, was es heißt, an der großen Straße zu wohnen.

Die Entwicklung eines umfangreichen Programmblocks war essenziell für die subtile Akklimatisierung der Projekte in ihrem Umfeld. Nahezu jeder Ort war mit einer „öffentlichen Bühne“ ausgestattet, die der Beteiligung der Bevölkerung einen Ort in der Projektinfrastruktur einräumte, der symbolisch wie real genutzt werden konnte. Im faszinierend leichten Umgang zwischen Kunst und Kontext entwickelten sich viele Programmpunkte erst während der Ausstellung. Höhepunkt dabei war sicherlich die Wahl zur „Schönheit der großen Straße“, dem schönsten Auto des Ruhrgebiets zusammen mit der Tunergemeinde am Dückerweg. Aber auch der nachbarschaftliche Besuch zwischen D&W und den Gärtnerinnen von der anderen Seite der großen Straße fand im Poledance von Angie Lexx an Gärtner Richards Teppichstange einen illustren Höhepunkt.

Aus dem offenen Verhältnis spricht die soziale Kompetenz der vernakulären Landschaft, die im täglich praktizierten Aushandlungsprozess individueller wie sozialer Territorien und einer aktiven Konfliktfähigkeit entsteht. Das Ruhrgebiet muss danach neu und richtig als eine Landschaft gelesen werden, die sich längst neu aufgestellt hat: in den filigranen Strukturen, die die Menschen zwischen die ökonomisch-politischen Schwergewichte gelegt haben. Ob Rhizom oder Mycel, ob Netzwerk oder Community, ist den „Ruhries“ dabei gleich.

„Die Psychographie des Ruhrgebiets zählt zu seinen supermodernen Eigenschaften: Viele Zentren und ebenso viele Peripherien, unterschiedlichste Funktionen, Nutzungen und soziale Universen, die augenscheinlich wenig konfliktträchtig nebeneinander existieren (und häufig aber auch kaum über das Stadium der bloßen Koexistenz hinausgehen), formen soziale Landschaften, in denen vermeintlich Unvereinbares in hohem Maße toleriert wird. Dies ist kein Zufall und wohl auch nur zum Teil Ergebnis des Lernprozesses, den das Ruhrgebiet als Einwanderungsregion bereits durchlaufen hat; eine Region, in der ausgeklügelte Zentrenhierarchien von der regional agierenden Bevölkerung tagtäglich lässig außer Kraft gesetzt werden, hat eben andere raumstrukturelle Qualitäten und soziale Begabungen als eine konzentrische Metropolregion: Toleranz, Optionalität, Nachlässigkeit, cocooning sind Qualitäten der Städteregion Ruhr.“

Die von Dirk Haas treffend beschriebene Konstellation ist sicher auch Ergebnis der steten Zerschlagung der großen Entwürfe. Kaum eine Region musste so oft von vorne anfangen, improvisieren, sich neu erfinden. Die permanente Unbeständigkeit der Perspektiven, die Industrialisierung und ihr Ende, die Zerstörung im Krieg, der Verlust der Arbeiteridentität im Niedergang der Montanindustrie – all das führt zu einem Misstrauen in politische Prognosen und Heilsversprechen. Folgerichtig sind Masterpläne an der Ruhr nahezu Makulatur. Die Menschen schaffen sich unterhalb dieser in der Hartnäckigkeit der Realität ihre eigene Welt, die sich nah an Jacksons Entwurf der vernakulären Landschaft bewegt. Sie übertrifft ihn jedoch in der Frage der langfristigen Perspektiven: Das Ruhrgebiet hat die fragilen Entwürfe, die Unbeständigkeit und Improvisation, die dezentralen wie weichen Strategien, die latenten Toleranzen und sozialen Kompetenzen zu einer festen Masse, zum tragenden Element der Gesellschaft verdichtet. Es hat in der steten Wiederholung, in kurzen, repetierten Sequenzen den Umgang mit dem Ungewissen zu einer sicheren, zukunftsträchtigen Praxis gemacht, die eben Perspektiven entwickelt und Geschichte schreibt – unscheinbar, leise, sympathisch direkt. Das Unbeständige gewinnt dabei an Dauer, das Temporäre an Bestand, die weichen Praktiken an Durchschlagskraft und die losen Verbände das dauerhafte Überleben.

In dieser Landschaft zeichnen die Kunstprojekte im direkten Dialog mit den Bewohnern einen fluktuierenden Stadtraum auf, der sich durch seine starke Fragmentierung als Objekt einer übergeordneten Betrachtung und Planung stets entzieht, sich aber gleichzeitig als aktives Subjekt konstituiert, das autoproduktiv immer da Stadtraum generiert, wo schon Stadt und noch nicht Zentrum ist.

B1|A40 hat diesen Raum entlang der A40 zugänglich und lesbar gemacht, um aus seinen originären Formen und Typologien zu lernen, bevor er nahezu unweigerlich durch seine neue Rolle im Zentrum der Ruhrmetropole überschrieben wird. Seine räumlichen Formen sind den kaum vermeidlichen Veränderungen durch Ökonomie und Politik ausgesetzt, nicht aber seine Strategien. Sie werden getragen vom großen sozialen Netzwerk Ruhr, das nicht in den Dingen lebt, sondern in den Praktiken der Menschen vor Ort unabdingbar aktiv ist.

In der Perspektive ihres prognostizierten Verschwindens sollte man hier mit romantischer Melancholie also vorsichtig sein. Denn was von diesem Raum zu lernen ist, was ihn zum urbanen Labor macht, ist seine radikale Offenheit für den Wandel, für das Temporäre und das pionierhaft Forschende, das nicht nach historischen Dimensionen trachtet, sondern darauf gerichtet ist, sich ständig neu zu denken und dabei selbst zu aktualisieren.

Markus Ambach