ESSEN AN DER RUHR – DER GESCHMACK DER
REGION Das Rechercheprojekt des Düsseldorfer Künstlers Arpad Dobriban im
Rahmen des Kulturhauptstadtjahres RUHR.2010 in Zusammenarbeit mit der Universität
Witten/Herdecke
Im Geschmack bündeln sich Spuren von Handlungen. Wie wir uns die Welt einverleiben,
zeigt unser Blick auf die Welt. Kochen als älteste, überlebenswichtige Kulturtechnik
des Menschen ist eine Metapher für unseren Umgang mit den Dingen. Der Herd
und die Küche sind das eigene Universum, in dem wir, wenn wir es wollen,
selbstbestimmt agieren können. Das sind einige der Kernsätze von Arpad Dobriban,
mit denen er Fragen zu seiner Arbeit beantwortet.
Seit den 1950er Jahren eilt die Lebensmittelindustrie zu Hilfe, wo die Arbeit
zu viel, zu mühsam oder zu teuer wird. Schnell und ohne Aufwand lassen sich
so essbare Dinge zubereiten, die meist nur über ihren Namen oder eine Abbildung
Vertrautes, Wohlbekanntes suggerieren, nicht aber über den Geschmack und
schon gar nicht über die Substanz, aus denen diese Küchenhelfer und Zeitsparer
bestehen. Die guten Geister, die wir riefen, haben uns in Distanz zu den
uns umgebenden Dingen gebracht. Unverarbeitete Produkte wie Gemüse, Fleisch,
Milch, Eier, Mehl blicken uns erwartungsvoll an, was wir wohl mit ihnen
anstellen werden. Vielen von uns fehlen bereits elementare Kenntnisse und
vor allem auch das Zutrauen, mit Lebensmitteln (sic!) gut umgehen zu können.
Arpad Dobriban bezieht sich in der Arbeit an seinen Projekten auf die Zeit
vor diesem einschneidenden Eingriff in den Bereich des eigenen Universums.
Er sucht nach Anweisungen aus der Vergangenheit, um sie direkt in Handlungen
umzusetzen. Ein aufgeschriebenes Rezept ist für ihn nichts ohne die jeweiligen
Rezeptgeber. Dabei muss man die Speise gar nicht unbedingt selbst gekocht,
aber auf jeden Fall selbst gegessen haben. Über die Geschmackserinnerungen
können die erforderlichen Handlungen, die zu diesem einen, unverwechselbaren
Geschmack führen, rekonstruiert werden. Man kann auch sagen, Arpad Dobriban
arbeitet daran, die persönlichen Überlieferungsketten zu erhalten.
Geschmack und Geruch sind die bedeutenden Auslöser für emotional besetzte
Erinnerungen, deshalb sind die Speisen in vielen Geschichten, meist aus
der Kindheit, verborgen. Diese kann man nicht einfach abfragen, an denen
muss man rühren. Persönliche Gespräche und gemeinsames Kochen haben schon
so manchen Schatz gehoben. Nach einem ersten Interview lädt Dobriban in
seine mobile Küche ein und lässt sich die Zubereitung von Speisen beibringen,
die vielleicht in der täglichen Küchenpraxis der jeweiligen Familie noch
eine Rolle spielen und die ihm interessant erscheinen. Nicht selten kommt
dabei die Sprache auf Gerichte, die es immer bei der Großmutter gegeben
hat, die aber in Vergessenheit geraten sind. Dass dieser Erinnerungsspur
sofort nachgegangen wird und Dobriban mit seinen Kochpartnern gemeinsam
an der Wiedererschaffung des Geschmackserlebnisses arbeitet, macht die Stärke
seines Projektes aus. Diese sorgfältige Hinwendung zu den Personen und den
Dingen fördert individuelles, hochspezialisiertes Wissen und Erfahrung zutage.
So findet eine Leibspeise wieder zurück in die Welt und wird bei einem der
nächsten öffentlichen Essen eine lebendige Geschmackserinnerung für viele.
An diesem Punkt lässt sich auch mit dem häufigen Missverständnis aufräumen,
dass Dobriban auf der Suche nach typischen Gerichten der Region sei. Die
Typisierung haben andere längst vorgenommen, sie ist ein Oberflächenreiz
für die Betrachtung aus der Ferne. Typisierungen gehören in den Bereich
der Vermarktung, des Tourismus, der Gastronomie und sind ihrerseits nur
Bilder von scheinbar Vertrautem. Dobriban arbeitet an der Nahaufnahme. Was
ist tatsächlich vorhanden, was wird jetzt in der Region gelebt.
Natürlich lassen sich bei ausreichendem Umfang dieser Feldforschung auch
Entwicklungen in der Alltagskultur oder Migrationsbewegungen ablesen und
beschreiben. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass der in Ungarn
aufgewachsene Künstler im Rahmen von „Twins 2010“ in Pécs, ebenfalls Kulturhauptstadt
2010, ein Teilprojekt seiner Geschmacksrecherche realisiert.
Je nachdem aus welcher Generation seine Gesprächspartner stammen, kann er
manchmal bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurückschauen. Deshalb wird
es oft auch notwendig, auf Produzenten zuzugehen, um Produkte, die heute
nicht mehr so nachgefragt werden, zu finden oder anbauen zu lassen und selbst
übers Jahr Obst und Gemüse zu trocknen, einzukochen oder anderweitig zu
konservieren. Damit sind Dobribans Projekte auch physisch dauerhafter Bestandteil
seines eigenen Lebens.Für die Präsentation seiner Arbeit hat Arpad Dobriban
über die Jahre ein Format entwickelt, das sich aus den Museen und Galerien
heraus, zumindest im Sommer auch in den öffentlichen Raum, auf Plätze, Straßen
oder kleine Brachflächen übertragen lässt und sich auch für die Vermittlung
seiner Rechercheprojekte gut eignet: die kommentierte Speisefolge. Er fasst
dabei verschiedene Gerichte zu mehrgängigen Menüs zusammen und begleitet
die einzelnen Gänge mit kurzen Vorträgen. Mit seiner mobilen Küche sucht
er dafür möglichst der Gastronomie ferne Orte aus und stellt eine lange
Tafel in die Landschaft, an der es eher zugeht wie am Familientisch als
im Restaurant. Die Speisen kommen in Schüsseln auf den Tisch und wenn es
das Gericht erfordert, wird ein Tier im Ganzen serviert.
Jenseits von Dekoration, Tischschmuck, Tellerservice und ähnlichem sind
Dobribans Gastmahle für 40 bis 150 Gäste wohldurchdachte und inszenierte
Situationen, die die gemeinsame Geschmackserfahrung zum Ziel haben. Dass
er dabei auch gleichzeitig seiner Sicht auf die Welt Ausdruck verleiht,
kommentiert der Künstler so: „Mit keiner meiner sonstigen Arbeiten bin ich
so nah am Rezipienten, meine Gäste verleiben sich meine Arbeit ein.“
Innerhalb von RUHR.2010 vollzieht sich die Arbeit eher leise und unspektakulär.
Dabei dürfte es sich um eines der Projekte mit größter Langzeitwirkung handeln.
Die Kooperation mit der Universität Witten-Herdecke ermöglicht Studenten,
fundamental und aktiv mitzuarbeiten. Viele, vor allem ältere Ruhrgebietsbewohner,
kommen in einen intensiven Kontakt und Austausch über ihren Alltag und erfahren
eine Wertschätzung ihres Wissens und ihrer Kultur, deren Verbreitung sich
durch die öffentlichen Essen vollzieht.
Für seine Veranstaltungen sucht sich Arpad Dobriban jeweils Partner, auch
innerhalb anderer RUHR.2010 Projekte oder er wird zur Teilnahme eingeladen,
wie in diesem Falle zu „B1|A40 Die Schönheit der großen Straße“, dem Projekt
des Künstlerkollegen Markus Ambach.
Wenn man bis zu vier Stunden, so lange können die Speisefolgen dauern, bei
Arpad Dobriban zu Tisch gesessen hat, hat man etwas Außergewöhnliches erlebt,
etwas Unvergessliches geschmeckt und trotzdem keinem Event beigewohnt. Man
war aktiver Teil einer Gemeinschaft, die auf genussvolle Weise ihre ganze
Aufmerksamkeit der sie umgebenden Welt gewidmet hat.
Der studierte Bildhauer, Film- und Fotokünstler muss sich immer wieder die
Frage gefallen lassen, was denn daran „Kunst“ sei. „Das liegt daran, dass
alles, was ich tue, so nahe am alltäglichen Leben liegt und die Grenzen
oft gar nicht sichtbar sind“, antwortet er dann ganz in Ruhe. „Künstler
haben die Aufgabe, sich mit all dem zu befassen, was niemand sonst in die
Hand nimmt“, fügt er bestechend einfach und überzeugend hinzu.