Mit einer mehrteiligen Arbeit markiert
der Hamburger Künstler Christoph Schäfer Orte im Ruhrgebiet, die mit der
vergessenen Geschichte der Roten Ruhr Armee verknüpft sind. So entsteht
zwischen Essen und Dortmund ein mehrteiliges „Anti-Monument“, dass die revolutionären
Kämpfe des Jahres 1920 mit der nachindustriellen Wirklichkeit der Kulturökonomie,
der „Imagecity“, in Bezug setzt.
AUSLAUFENDES ROT – ANTI-MONUMENT FÜR DIE ROTE RUHR ARMEE Die Märzrevolution im Ruhrgebiet, die Revolte der Arbeiter
und Arbeiterinnen der Roten Ruhr Armee 1920, ist der größte Aufstand in
der deutschen Geschichte seit dem Bauernkrieg. Doch die Erinnerung an die
Ereignisse ist gelöscht, die Denkmäler sind geschliffen, die Geschichte
verdreht und umgeschrieben.
Im Morgengrauen des 13. März 1920 marschiert
eine gespenstische Truppe in Berlin ein: Marinesoldaten der „Brigade Ehrhardt“
zwingen die Regierung zur Flucht. Auf ihre Helme haben die Putschisten Hakenkreuze
gemalt. Im ganzen Reich kommt es als Reaktion auf den Putsch zu Streiks
und Demonstrationen. Als das „Freikorps Lichtschlag“ ins Ruhrgebiet einrückt,
greifen die Arbeiter zu den Waffen. Die reaktionäre Truppe wird geschlagen,
die Arbeiter gehen direkt zur sozialen Revolution über. Sie kämpfen für
das Rätesystem. Unabhängige SozialdemokratInnen, SyndikalistInnen und SpartakistInnen
formieren sich zur Roten Ruhr Armee und erobern von Dortmund ausgehend das
gesamte Industrierevier.
IN ESSEN KULMINIEREN DIE KÄMPFE AM STEELER WASSERTURM Zwei paramilitärische Einheiten, die reaktionäre Einwohnerwehr
und die Sicherheitspolizei (Sipo), haben sich in dem Gebäude verschanzt.
Auch nachdem ganz Essen bereits von den Arbeitern und Arbeiterinnen erobert
ist, weigert sich die Truppe zunächst aufzugeben. Als die Besatzer schließlich
die weiße Fahne heraushängen, kommen die Arbeiter und Abeiterinnen aus der
Deckung. Doch ein Teil der Turm-Besatzung bekommt das nicht mit – oder lehnt
es ab, sich zu ergeben. Sie werfen Handgranaten in die Menge. Schließlich
gelingt es den Arbeitern und Arbeiterinnen doch, den Turm zu erobern. Insgesamt
elf der 46 Besatzer kommen infolge der Kämpfe zu Tode. Wie viele Arbeiter
und Arbeiterinnen bei den Kämpfen starben, ist bis heute unbekannt.
IN DER FOLGE ENTSTEHT DER „MYTHOS-WASSERTURM“:
„Man mache den Test und Frage nach dem Kampf um den Essener Wasserturm“,
schrieb 1970 Erhard Lucas in der Einleitung zum Standardwerk über die Märzrevolution
im Ruhrgebiet, „… so wird man fast immer die Geschichte zu hören bekommen,
wie die ‚Roten‘ einige Dutzend brave Polizisten und Essener Bürger ‚viehisch
abgeschlachtet‘ haben“. Und daran hat sich bis heute wenig geändert: In
der Lokalberichterstattung über „Auslaufendes Rot“ ist von „Greueltaten“
die Rede, von „Geschichtsklitterung“ und „unkritischer Verherrlichung der
Roten Ruhr Armee“.
Die Erzählung von den „Verbrechen der Roten Ruhr Armee“ wird erfunden, um
den Aufstand der Arbeiter und Arbeiterinnen zu denunzieren und die im April
1920 folgenden Massaker von Freikorps und Reichswehr an der Bevölkerung
zu rechtfertigen, denen tatsächlich tausende Menschen zum Opfer fallen.
DIE DENKMALSITUATION IM RUHRGEBIET
Bereits in den 20er Jahren wird eine irreführende Tafel am Wasserturm angebracht.
Darauf sind 40 Tote verzeichnet, die die Paramilitärs und Polizeitruppen
in den Kämpfen mit den Arbeitern und Arbeiterinnen zu beklagen hatten. Die
Tafel suggeriert, dass alle Verzeichneten bei den Kämpfen um den Wasserturm
umgekommen seien. Die Geschichtsfälschung wird von der Rechten initiiert
und instrumentalisiert: In der Nazizeit finden hier Feierlichkeiten zu Ehren
der „Helden der Bewegung“ statt: Hermann Göring hält am 19. März 1934 eine
Gedenkveranstaltung ab. Ungebrochen gehen die Kranzniederlegungen bis in
die 60er Jahre weiter.
Doch nicht nur am Wasserturm wird die Geschichte umgeschrieben: Die Gräber
der Reichswehr-Opfer auf dem Südfriedhof und dem Nordfriedhof werden von
den Nazis eingeebnet. In Essen wird den Putschisten aus den Freikorps sogar
ein Denkmal errichtet: gebaut in der Nazizeit, auf Betreiben des Freiherrn
von Watter, seines Zeichens Befehlshaber und verantwortlich für die von
Reichswehr und Freikorps verübten Massenmorde im Ruhrgebiet. In der Nähe
von Haus Horst gelegen, wird das „Ehrenmal“ nach dem Krieg halbherzig in
ein „Denkmal für die Opfer des Nationalsozialismus“ umbenannt – der faschistischen
Ästhetik des Monuments tut dies keinen Abbruch. Noch am 20. April 2010 sollen
Nazis hier im Fackelschein Hitlers Geburtstag gefeiert haben.
Eine vorsichtige Korrektur der verfälschten Geschichtsschreibung im Ruhrgebiet
kommt erst mit der Verbreitung von kritischer Theorie imZuge der anti-autoritären
Bewegung in Gang: Erhard Lucas Standardwerk Märzrevolution erscheint 1970.
Nicht ohne darauf hinzuweisen, wer denn das Vergessen bis dahin organisiert
hatte: die mächtige Industrie des Ruhrgebiets, die von Beginn an auf der
Seite der Freikorps steht, und die SPD, die zunächst im März von den linken
Arbeitern vor den Putschisten gerettet wird – nur um kurz drauf, im April,
die putschenden Militäreinheiten auf die Arbeiter loszulassen.
Anfang der 80er Jahre werden durch die Stadt Essen an vielen Orten sachliche
Schrifttafeln montiert, die über Geschichte und Funktion der verschleiernden
Gedächtnisplatten, Orte und Ehrenmale aufklären. Am Ehrenmal in Essen-Horst
heißt es korrekt: „Dieses Bauwerk wurde von den Nationalsozialisten im Jahre
1934 als Ehrenmahl für die Gefallenen der Freikorps, Einwohnerwehren, Reichswehr
und Polizeieinheiten errichtet, die 1918–1920 gegen die revolutionären Arbeiter
im Ruhrgebiet kämpften. Damit versuchten die Nationalsozialisten, ihre Sichtweise
der Revolutionszeit 1918–1920 propagandistisch durchzusetzen, also vor allem:
– die Weimarer Republik – das Ergebnis der Novemberrevolution 1918 – herabzuwürdigen,
– die Arbeiter der Roten Ruhr Armee zu verunglimpfen, die im März 1920 zur
Abwehr des reaktionären Kapp-Putsches zu den Waffen griffen und gegen putschende
Freikorps-Einheiten, nach Beendigung des Putsches aber auch für die Durchsetzung
revolutionärer Forderungen (unter anderem Rätesystem) kämpften,
– die Mitglieder der Freikorps, von denen viele schon 1918 politisch rechtsextrem
eingestellt waren und später als Nationalsozialisten die Weimarer Republik
bekämpften, als nationale Helden und Wegbereiter des Nationalsozialismus
zu feiern,
– den gewaltsamen Kampf der revolutionären Arbeiter in den bürgerkriegsartigen
Auseinandersetzungen 1918–1920 als ‚Roten Terror‘ zu brandmarken, den ‚Weißen
Terror‘ der Freikorps aber zu verschweigen, dem nach der militärischen Besetzung
des Ruhrgebiets im April 1920 weit über 1000 Arbeiter zum Opfer fielen,
– die Beseitigung der Demokratie und die Errichtung der nationalsozialistischen
Diktatur 1933 als ‚Rettung Deutschlands‘ darzustellen.“
Doch ästhetisch wissen die sachlichen Erklärungen die Dominanz der rechten
Mahnmalslandschaften nicht zu brechen. Fast unsichtbar ist die Erinnerung
an die Opfer aus Reihen der Arbeiter und Arbeiterinnen. Die heroischen Taten
der radikalen Arbeiter und Arbeiterinnen bleiben im öffentlichen Raum völlig
unrepräsentiert. Daran hat sich auch im Rahmen der Kulturhauptstadt RUHR.2010
nichts geändert.
Das muss verwundern. Denn die Märzrevolution bzw. der Ruhraufstand sind
für die Geschichte des Ruhrgebiets so bedeutsam wie die Entdeckung der Kohle
oder die Erfindung des nahtlosen Eisenbahnrades. Das wichtige Industrierevier
hatte es 1920 in der Hand, Deutschlands Weg nach rechts aufzuhalten, ja
mehr als das: der Entwicklung des Sozialismus eine ganz andere Richtung
zu geben.
ORGANISIERTES VERGESSEN IN ESSEN Um
der fragwürdigen Erinnerungs- und Verdrängungssituation etwas entgegenzusetzen,
hat der in Hamburg lebende Künstler Christoph Schäfer mehrere Orte mit künstlerischen
Installationen markiert: den Westfalendamm, an dem das Freikorps Lichtschlag
eine empfindliche Niederlage hinnehmen musste, den Wasserturm Steeler Straße
und eine Straßenbahn in Dortmund.
Dabei verwendet Schäfer vornehmlich die Mittel des Stadtmarketings und überprüft,
ob die Beflaggung und das farbige Licht, mit denen Industriegebäude wie
Investorenarchitekturen gleichermaßen entkontextualisiert und in ein inhaltsleeres,
entpolitisiertes, ästhetisches Objekt verwandelt werden, auch für das gegenteilige
Anliegen taugen.
Die Rekontextualisierung des Essener Wasserturms mit seiner Geschichte,
von der der Ort durch den Sieg des Nationalsozialismus und eine Politik
des Verdrängens in der Nachkriegszeit bis heute abgeschnitten ist. Interessante
Seite zur Denkmalsituation um den Ruhraufstand in Essen und dem Ruhrgebiet:
www.ruhr1920.de.
„Wir wollen nicht im Staube kriechen vor denjenigen, die durch den Zufall
der Geburt sich ein Von-Oben-Herabblicken anmaßen dürfen. Wir wollen nicht
weiterhin besitzlose Proletarier sein, sondern wir verlangen Miteigentumsrechte
an den Produktionsmitteln. Wir verlangen Miteigentumsrecht an den von uns
erzeugten Produkten. Wir verlangen Eigentumsrecht an den Schätzen, die sich
auf und unter der Erde vorfinden. Wir verlangen das Paradies auf Erden und
lassen uns nicht länger mit der Hoffnung auf ein besseres Jenseits abfinden.“
Vollzugsrat der Zechenkolonie Lohberg in Dinslaken im März 1920 Bekanntmachung:
Die Veröffentlichung nationalistischer, monarchistischer, antisozialistischer,
das Wesen der Rätediktatur befehdender Artikel und Notizen ist nicht gestattet.
Essen den 20. März 1920 – Der Vollzugsrat des Arbeiterrats Essen
„Der Erziehungsgedanke hat an die Stelle des Strafgedankens zu treten. Die
gedankenlose Einsperrung armer, schwacher Menschen, die den rechten Weg
nicht kannten oder sich darauf nicht halten konnten, in Zuchthäusern und
Gefängnissen widerspricht der Menschenwürde, ebenso die Todesstrafe.“ Volksbeauftragter
für die Sozialisierung der Justiz, Elberfeld, März 1920 „Rote Armee“ im
Ruhrgebiet – fragt man heute Bewohner des Ruhrgebiets nach jenem aufregenden
Geschehen im Jahr 1920, so erhält man von jenen, die etwas gehört haben
oder sogar Augenzeugen waren, in der Regel Antworten, die die Wirklichkeit
geradezu auf den Kopf stellen. Man mache den Test und frage nach dem Kampf
um den Essener Wasserturm, so wird man fast immer die Geschichte zu hören
bekommen, wie die „Roten“ einige Dutzend brave Polizisten und Essener Bürger
„viehisch abgeschlachtet“ haben. (…) Die zwölf Jahre nationalsozialistischer
Herrschaft (…) haben das Geschichtsbewusstsein der deutschen Arbeiterklasse
so gründlich zerstört, daß es vorerst fraglich ist, ob es je wiederbelebt
werden kann.
Erhard Lucas, Märzrevolution im Ruhrgebiet, Band 1, S. 7ff, Berlin, März
Verlag 1970