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Ausstellung 2014

     

JEANNE VAN HEESWIJK MARCEL VAN DER MEIJS
DER WIDERSTAND DES KLEINEN GLÜCKS

Inmitten der Überführungen, der Viadukte und den auf unterschiedlicher Höhe befindlichen Kreuzungen der A40 und der A3, welche zusammen das Kreuz Kaiserberg bilden, liegt das Enklave-Dörfchen Werthacker. In dieser vom Lärm geprägten Landschaft, erschaffen sich die Bewohner des Dorfes als offenkundige Reaktion mithilfe der Sortimente von Baumärkten und Gartencentern Miniparadiese und versuchen tapfer, ihre Identität als Gemeinschaft aufrechtzuerhalten. Dies geschieht in einem Gebiet, das sowohl durch die Identitätslosigkeit der Infrastruktur ringsum als auch durch die fremdbestimmte Identität gekennzeichnet ist, die sich zeigt, wenn man den ganzen Schnickschnack in den Gärten kritisch betrachtet – in einem Gebiet, in dem die Überalterung lauert und neue Einwohner nicht immer einen gemeinsamen Hintergrund haben. Die Wahrzeichen des Dorfes sind ein Bunker, der als Übungsraum für Hardrock-Bands dient, welche bei den Bewohnern nicht wirklich willkommen sind, sowie eine ehemalige Kirche. Als im Jahr 1947 die Siedlergemeinschaft Duisburg (Werthacker) gegründet wurde, war dies ein Zeichen der Hoffnung. Ein Zeichen der Hoffnung für die Familien, die sich in der schweren Nachkriegszeit zusammenfanden, wo an allen Ecken und Enden Not und Mangel herrschte, zusammen ans Werk zu gehen und sich in gemeinsamer Arbeit, in Gruppenselbsthilfe, ein eigenes Heim zu schaffen.

Eine Frau läuft über die Spielwiese der Kirche und trägt einen selbstgemachten Obstkuchen. Sie erzählt: „Ich wurde hier in der Kriegszeit geboren. Damals war es alles ganz anders. Früher war hier im Kreuz Kaiserberg ein Zigeunerlager und hier wohnte viel ‚Kroppzeuch‘. Es war eine verrufene Gegend. Die Leute meinten: ‚Wer hier wohnt, zahlt keine Miete und hat keine Arbeit.‘ Im Krieg wurden wir ausgebombt und wir sind lange rum gewandert, aber letztlich bin ich wieder zurück nach Werthacker gezogen. Heute leben hier nur Ehrenmenschen.“

Sie stellt den Kuchen auf einen großen, aus grobem Holz gezimmerten, hufeisenförmigen Tisch vor der Kirche, der in diesem Sommer als Konferenztisch und als Podium, aber auch als Biergarten diente. Seit Anfang 2006 steht der Erhalt der St. Martinus-Kapelle im Werthacker zur Debatte. Die kleine Kirche ist seit mehr als 50 Jahren ein zentrales Symbol im Siedlungsgebiet. Nun ist die Bausubstanz marode und der Eigentümer, das Bistum Essen, entschlossen, sich aus Kostengründen vom Objekt zu trennen: derzeit laufen die Verkaufsverhandlungen. Eine Veräußerung der Kapelle würde höchstwahrscheinlich zum anschließenden Abriss führen, da externe Neueigentümer wohl Wohngebäude auf dem bisherigen Kirchengelände errichten möchten.

Die Kirche zu Werthacker ist nicht nur optischer Mittelpunkt des Ortes, sondern auch Gemeindezentrum. Nachdem sie vom Bistum aufgegeben und säkularisiert wurde, unterlag sie verschiedenen Nutzungen. Für den Ort, der daran gewöhnt ist, mit heterogenen Nachbarschaften zu leben, ist wohl die bedeutendste die Siedlerklause: Gemeindetreffpunkt, inoffizielles Rathaus und Kneipenersatz in einem. Im Keller unter der Kirche gelegen, treffen sich hier alle, um Politik zu machen, gemeinsame Beschlüsse zu fassen oder einfach, um ein Bier zu trinken.

Seitdem das Bistum den ehemaligen Standort abreißen will, ist dieses Gemeindezentrum bedroht und damit der sinnstiftende Ort der Gemeinschaft. Die Siedlergemeinschaft bemüht sich nun um den Erhalt des Gebäudes und finanziert den Kauf durch eine findige Idee: Die Hälfte des Grundstücks wird zur Neubebauung veräußert und damit der Kauf der Kirche finanziert. Dass dabei die Hälfte des Gebäudes abgerissen werden muss, gleicht einem Bauernopfer, behält doch dadurch die Gemeinde den Kirchturm und – ganz im Besonderen – die Siedlerklause. Weiterhin versuchen sie, mittels Dorffesten und anderen Initiativen genügend Geld zusammenzubringen, um den Umbau der Kirche zu einem Gemeinschaftsraum finanzieren zu können. Die Frau hat den Kuchen gebacken, um einen Beitrag für diesen Kampf zu leisten: LASST DIE KIRCHE IM DORF.

Der Kampf ist den Dorfbewohnern nicht fremd, wie sie berrichtet: „Der Widerstand beginnt bei unseren Vätern, die haben es geschafft, die A40 um die Siedlung herum zu führen, was zu dem besonderen Spaghettiknoten des Kreuz Kaiserberg führte. Sie behaupteten sich auch gegen die DVG (Duisburger Verkehrsgesellschaft). Und heute schaffen sie das zum Beispiel durch den Ausschank der Getränke ohne Schankgenehmigung.“ Es ist ein Kommen und Gehen auf dem Platz. Jeder trägt sein Scherflein bei. An dem Tisch beraten die „Anführer“ lebhaft über die Preise der angebotenen Getränke und Speisen. Andere Männer sind am Schleppen (das heißt sie tragen und übernehmen die schweren Sachen) oder zapfen Bier, und einige Frauen kochen das Abendessen in großen Töpfen. Weitere Frauen kommen und bringen selbstgemachte Kuchen, aber sie gehen auch schnell wieder weg. Es fällt auf, wie unterschiedlich sich die einzelnen Individuen zum Kollektiv verhalten. Einige sind besonders stark in die Gruppe involviert und man sieht auch, dass sich die Gruppe nicht immer einig ist.

Sie lacht und sagt: „Jeder hat so seine Rolle in der Gruppe, sonst, wenn jeder macht, was er will, gibt es nur Chaos. Ich glaube, dass es wichtig ist, dass keiner etwas ohne das Kollektiv macht. Der eine hat zum Beispiel viele Ideen, die nicht immer realisierbar sind, und versucht die Leitung zu übernehmen, aber dann holt der andere ihn immer wieder auf den Boden. Die Gruppenmitglieder diskutieren meist so lange, bis sie dann ein Ergebnis haben. Die Arbeit bei den Frauen ist eher gleichberechtigt verteilt. Es gibt Listen, in die wir uns eintragen, sodass jede das macht, was sie machen möchte und auch nur so viel macht, wie sie kann. Ich arbeite etwa zwei Stunden am Tag für die Gruppe, mal mehr, mal weniger. Mittlerweile haben wir uns aber schon etwas zurückgenommen, wir sind ja nicht mehr die Jüngsten.

“Wenn man sie so bei ihren Arbeiten beobachtet, kann man feststellen, dass der Gemeinschaftsgeist der Gründerzeit in der Werthackersiedlung bis heute lebendig geblieben ist. Die Gruppe trifft sich schon jahrelang jede Woche. Man glaubt, dass durch die Treffen alles viel schöner wird und wenn man sich lange nicht gesehen hat, fehlt etwas. Jeder kann kommen, muss aber nicht. Es gibt keinen Zwang. Die Treffen sind jedenfalls sehr wichtig für den Erfahrungsaustausch und die Gruppe wird dadurch gestärkt. Die Arbeit der Siedlergemeinschaft ist sowohl bei der Hilfe für den Einzelnen als auch im Einsatz für die Werthacker-Siedlung und bei den geselligen Aktivitäten ein gutes Beispiel und ein Zeugnis für eine lebendige Gemeinschaft.

Das ist alles schön und gut, sagt sie: „Aber warum machen so wenige Jüngere mit? Der Feind der Gemeinschaft ist Desinteresse. Hier ist alles ganz bequem, alles ist da und keiner braucht lange Wege auf sich nehmen, um Teil der Gemeinschaft zu sein. Es gibt ein, zwei Jüngere, die mitmachen. Wie geht es mit der Gemeinschaft weiter? Es ist schwer, die Leute zu motivieren. Ich habe ein paar junge Männer gesehen, die sich engagieren, aber wenige junge Frauen. Meine Tochter ist erstaunlich oft da, früher fand sie das eher peinlich. Ich bin zwar skeptisch, aber wir hoffen, wenn alles neu ist, dass wir auch die Jungen erreichen. Sonst hilft da nur ein Lasso, mit dem man alle einfangen kann.“

Die Siedler definieren sich nicht nur im Kampf um das Gemeindezentrum, sondern eben auch durch die zahlreichen Lebensentwürfe, mit denen sich die Menschen im Kreuz Kaiserberg gegen die Schwierigkeiten des Ortes behaupten, um sich ein Stück eigenwilliger Heimat zu erobern. Die Siedler mobilisieren den „Widerstand des kleinen Glücks“. Das Projekt trägt nicht nur durch seine Form, sondern besonders auch durch den in Gang gesetzten Prozess, zur Stärkung des Charakters des Dorfes bei.