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Ausstellung 2014

     

WIR FAHR’N, FAHR’N, FAHR’N AUF DER AUTOBAHN
YVONNE P. DODERER

Wir fahr’n, fahr’n, fahr’n auf der Autobahn?

„Wir fahr’n, fahr’n, fahr’n auf der Autobahn,
wir fahr’n, fahr’n, fahr’n auf der Autobahn, …

Vor uns liegt ein weites Tal,
die Sonne scheint mit Glitzerstrahl …

Wir fahr’n, fahr’n, fahr’n auf der Autobahn,
wir fahr’n, fahr’n, fahr’n auf der Autobahn, …

Die Fahrbahn ist ein graues Band,
weiße Streifen, grüner Rand.
Wir fahr’n, fahr’n, fahr’n auf der Autobahn,
wir fahr’n, fahr’n, fahr’n auf der Autobahn, …

Jetzt schalten wir das Radio an,
aus dem Lautsprecher klingt es dann:
wir fahr’n, fahr’n, fahr’n auf der Autobahn …“

sang die deutsche Elektro-Popband Kraftwerk 1974 in Endlosschleife. Mit dem „Wirtschaftswunder“ war in den 1970er Jahren der Grad der Motorisierung in Westdeutschland wie in vielen anderen westeuropäischen Ländern bereits sprunghaft angestiegen. Dennoch bestand das Fahren auf der Autobahn im Vergleich zu heute noch fast aus einem Vergnügen. Nicht zufälligerweise zeigt das von Emil Schult im Reklamestil der Nachkriegszeit entworfene Front-Cover des Kraftwerk-Albums mit dem gleichnamigen Titel eine leicht geschwungene Autobahn in einer grün-braunen Landschaft. Der Horizont wird durch zwei Hügel, zwischen denen die Autobahn hindurchführt, und durch eine aufgehende Sonne markiert, deren Strahlen die scheinbare Endlosigkeit und Unbegrenztheit der Autobahn unterstreichen. Etwas oberhalb der Bildmitte wird das Band der Autobahn durch eine Brücke kontrastiert, die den besonderen Charakter dieser Form von Straße betont: die Autobahn als eine kreuzungsfreie Straße mit mindestens zwei Fahrspuren in jeder Fahrtrichtung, die zudem von einem Mittelstreifen getrennt sind. Die auf dem Cover dargestellte Autobahn verheißt dem Betrachter freie Fahrt in beide Richtungen, denn in jeder Fahrtrichtung ist nur ein Automobil zu sehen: ein VW-Käfer, der auf den Horizont zufährt und ein Mercedes Benz, der linker Hand aus dem Bild gleichsam herausfährt – zwei Ikonen der deutschen Automobillandschaft. Diese bewusst naiv gehaltene Darstellung vereint und persifliert zugleich jene ideologisch aufgeladenen Diskurse, die sich seit der Erfindung der Autobahn zwischen Raumplanung und Geopolitik, Verkehr und (Stadt-)Landschaft entwickelten. (Alle, die mit Auto und Autobahn verbundenen Stränge, Verflechtungen, Widersprüche und Brüche darzustellen zu versuchen, würde den Rahmen dieses Textes sprengen, weshalb ich im Folgenden nur einige wenige Aspekte dieser Beziehungsgeflechte ansprechen werde.)

Deutschland, Auto und Autobahn sind ja fast schon eine Synonymie. Dabei waren es nicht deutsche Ingenieure, die die Autobahn erfunden hatten, sondern der italienische Ingenieur Piero Puricelli, der 1924 als Erster in der Nähe von Turin eine 36,5 Kilometer lange Autobahn („Autostrade“) bauen ließ. Möglicherweise waren die US-amerikanischen Parkways, wie sie im 19. Jahrhundert von den Landschaftsarchitekten Calvert Vaux und Frederick Law Olmsted eingeführt wurden, Vorbild, da sie bereits eine Trennung unterschiedlicher Verkehrsteilnehmer vorsahen. Das Autofahren auf den Parkways diente damals der Erholung und der „seelsorgerischen Freude“ an der Landschaft. Später hatte dann niemand anderes als der Leiter verschiedener New Yorker Planungsbehörden, Robert Moses, die immense Bedeutung des Zusammenhangs von Landschaftserschließung, Straßenbau und Stadtentwicklung erkannt. Seine von den 1920er bis in die 1960er Jahre andauernde Machtposition, vor der selbst US-amerikanische Präsidenten in die Knie gingen, beruhte vor allem auf dem Bau von zahlreichen High- und Freeways, Brücken und Stadtautobahnen, die das Gepräge des Staates und der Stadt New York bis heute maßgeblich bestimmen. Auch dies war kein Zufall, da die USA lange Zeit in Straßenbau und Motorisierung führend war. 1935 kamen auf 1000 Einwohner in den USA 204,4 Fahrzeuge (ohne Krafträder). Für Deutschland betrug dieser Wert 16,1 Fahrzeuge, für Frankreich 49,0, für das Vereinigte Königreich 45,2, für Dänemark 41,6 und für die Schweiz 21,7 Fahrzeuge. Angesichts dieses Defizits war es also nicht verwunderlich, dass Adolf Hitler bereits im Jahr 1933 anlässlich einer Internationalen Automobil- und Motorrad-Ausstellung zu einer Motorisierungsoffensive des „Deutschen Reichs“ aufrief. In der Folge gelang es dem „Generalinspektor für das Deutsche Straßenwesen“, Fritz Todt, die historische Lüge über die deutsche Vorreiterrolle im Autobahnbau im kollektiven Gedächtnis der deutschen Bevölkerung zu verankern. Auch die Erzählung über den Reichsautobahnbau als erfolgreiche Arbeitsbeschaffungsmaßnahme erwies sich als reine Propaganda, da die Reichsautobahnen überwiegend von Zwangsarbeitern – Kriegsgefangenen und polnischen Juden – gebaut worden waren. Nur die Finanzierung der Reichsautobahnen stammte in der Tat zu zwei Dritteln aus den Kassen der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung.

Den diskursiven Hintergrund des Reichsautobahnbaus bildete ein Kampf um die Deutungshoheit über das Verhältnis von „Deutscher Technik“ und Ingenieursbaukunst kontra völkischem Landschafts- und Naturschutz. Die Auseinandersetzungen zwischen Straßenbauingenieuren und Landschaftsarchitekten begannen beim Streit um die landschaftliche Linienführung der Autobahnen und endeten bei der Frage, ob und in welcher Weise Mittelstreifen und Autobahnränder naturgemäß deutsch und „bodenständig“ zu bepflanzen seien. Entscheidend für Linienführung wie Bepflanzung war die visuelle Aneignung der Landschaft durch den Autofahrer. Eine „panoramatische“ und erlebnisreiche Inszenierung der Landschaft stand bei allen Vorhaben im Vordergrund. Hierfür wurden auch Steigungen in Kauf genommen oder die Verkehrssicherheit vernachlässigt. Bis zur Jahreswende 1941/42 wurden insgesamt 3625 Kilometer Reichs- autobahn fertiggestellt – die von der Nazi-Propaganda gefeierte Motorisierung der Massen war jedoch gescheitert.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden die Reichsautobahnen von der neu gegründeten Bundesrepublik Deutschland (und kurz darauf von der DDR) übernommen. In Westdeutschland wurden die planerischen und landschaftsarchitektonischen Ideologien, die dem Bau der Reichsautobahnen zugrunde lagen – ähnlich wie in der Stadtplanung, wo die „Volksgemeinschaft in Siedlungszellen“ zur „gegliederten und aufgelockerten Stadt“ mutierte – umgedeutet. Auch jetzt wird dem Verkehr eine übergeordnete und bedeutsame Rolle zugesprochen, „denn er ist das bindende Element aller Teile, Glieder und Organe der Stadtlandschaft“, und „erst wenn wir ihn bedingungslos zu unserem Diener machen, erhebt er uns zu Herren über Raum und Zeit“ schwadroniert der bekannte Architekt und Stadtplaner Hans Bernhard Reichow in seiner 1948 erschienenen Publikation Organische Stadtbaukunst. Unter der Prämisse der „autogerechten Stadt“ schließlich sollte das mit dem „Wirtschaftswunder“ entstandene Verkehrschaos entlang von Nutzungsentmischung und funktionsgerechter Flächenzuweisung entzerrt und geordnet werden – von Planern, die, wie nicht nur im Fall von Reichow, nahezu nahtlos und unbeschadet ihre Karriere im Nachkriegsdeutschland fortsetzen konnten. In den 1960er Jahren wurde dann deutlich, dass diese Leitbilder kaum funktionieren, propagiert wurde nun eine „Gesellschaft durch Dichte“. Und mit den 1970er Jahren wurde dann eine „andere Stadt“ gefordert, denn längst war das Automobil „in unsere Städte eingebrochen und hat sich zum Herren über sie aufgeschwungen“. Insgesamt betrachtet konzentrierte sich die Verkehrspolitik der Bundesrepublik Deutschland bis Anfang der 1980er Jahre auf funktionale, gemeinwohlorientierte und verkehrstechnische Begründungszusammenhänge, wobei es aufgrund des Föderalismus zu keiner vereinheitlichten Landschaftsgestaltung wie noch während des Nationalsozialismus mehr kam. Die „Massenmotorisierung“ erforderte zudem einen vermeintlich entideologisierten, nämlich rationalen, systematischen und wissenschaftlichen Umgang mit Fragen des Autobahnbaus und dessen landschaftlicher Einbindung, denn schließlich ging es nun darum, möglichst sicher und vor allem schnell voranzukommen. Dieses Ziel bestimmte auch nicht nur den seit den 1980er Jahren unter dem Vorzeichen einer Deregulierung erfolgenden weiteren Ausbau des Straßen- und Autobahnnetzes, sondern auch den des Eisenbahnverkehrs. Hinzu kam die Wiedervereinigung, die dem Autobahnbau neuen Aufschwung gab. Die Halbzeitbilanz des „Bundesverkehrswegeplans 2001–2015“ weist bis zum Juni 2008 unter anderem folgende Investitionen aus: „in den vergangenen Jahren etwa 3,6 Milliarden Euro pro Jahr in die Schienenwege, von 2001 bis 2007 insgesamt 19,8 Milliarden Euro für vorrangige Autobahnund Bundesstraßen-Projekte, seit 2001 neun Milliarden Euro für rund 900 Kilometer neue Autobahnen und seit 2001 6,1 Milliarden Euro in den Ausbau der Bundesstraßen, davon 210 neue Ortsumgehungen“. Gemäß der derzeitigen Bundesregierung ist das Ziel heute eine „integrierte Verkehrspolitik“ und „eine übergreifende Politik zur Optimierung des Gesamtsystems, bei der neben der Ausgestaltung der Finanzierung von Verkehrsinfrastruktur auch alle weiteren verkehrspolitischen Bereiche, so zum Beispiel Ordnungs- und Innovationspolitik, mit Blick auf alle Verkehrsträger als elementare Bestandteile in das Gesamtsystem eingebunden werden“.

Der Wille zur Mobilität ist damit trotz Finanzkrisen, Klima- und wirtschaftlichem Strukturwandel ungebrochen. Steigender motorisierter Individualverkehr und damit einhergehende, explodierende Produktions- und Verkaufszahlen in Ländern nachholender Modernisierung wie China und Indien bestätigen die insbesondere in Deutschland kollektiv inkorporierte und hegemoniale Erzählung, dass der Besitz und das Fahren eines Autos den Gipfel menschlicher Freiheit und ein unveränderliches Grundbedürfnis darstellt. Autofahren als „universelles Menschenrecht“, Auto als „lebensnotwendiges Wirtschaftsgut“? Bei genauerer Betrachtung der Nutzung der einzelnen Verkehrsmittel zeigt sich laut einer vom Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung beauftragten Studie „Verkehrsprognose 2015“, dass in Deutschland der motorisierte Individualverkehr den allerhöchsten Anteil am Personenverkehr innehat. Dies ist wenig überraschend. Erstaunlicher ist jedoch, dass in Bezug auf die Struktur des Personenverkehrs im Jahr 1997 der „bedeutendste Fahrzweck des gesamten Personenverkehrs der Privatverkehr mit 40 Prozent des Aufkommens und 44 Prozent der Leistung“ und eben nicht der „Berufsverkehr mit 19 Prozent des Aufkommens bzw. 18 Prozent der Leistung“ ist. An diesem Verhältnis dürfte sich auch 2010 nicht viel geändert haben.

Global wie national gesehen ist das „demokratisierte“ und scheinbar unverzichtbare Automobil nach wie vor ein ausgesprochenes Luxusgut und zudem eine wahre Geldvernichtungsmaschine. Es ist ein soziales Statussymbol mit Distinktionsgewinn und ein Fetisch, der durch Vorstellungen von Macht, Potenz und Männlichkeit aufgeladen ist (auch wenn der Anteil der Pkw-Besitzerinnen steigt). (Verstädterte) Landschaften und Städte ersticken im stehenden oder fließenden Autoverkehr und in parkenden Automassen. Stadt- und Landschaftsräume verlieren an Lebensqualität. Andere Verkehrsformen und Verkehrshandlungen werden der Vorherrschaft des Kraftfahrzeugs unterworfen. Auch die vermeintlich wichtige Rolle des Kraftfahrzeugbaus für die Beschäftigung nicht nur in Deutschland steht inzwischen zur Disposition.

Um wenigstens der Begrenztheit der Ressource Erdöl („Peak Oil“ bzw. globales Ölfördermaximum) etwas entgegenzusetzen, soll nun die Elektrifizierung des Automobils oder der Antrieb mit Biokraftstoffen eine zudem fragwürdige Lösung bringen. Eine grundlegende Wende in der Verkehrspolitik weg vom Automobil hingegen scheint undenkbar. Wie bereits im 20. Jahrhundert wird allenfalls ein, wenn auch unausgewogener Mix zwischen Straße, Schiene und Flugzeug propagiert, wobei diese Verkehrs- und Transportmittel nicht nur miteinander konkurrieren, sondern sich in Hinblick auf ihre Geschwindigkeit, ihren Komfort und ihre Kosten möglichst angleichen und weiter beschleunigen sollen. Die Folgen einer solchen Verkehrspolitik sind in Deutschland bereits jetzt erkennbar: weiterer Straßen- und Autobahnbau, Ausbau von HochgeschwindigkeitsBahnverbindungen zu Lasten des Regional- und Güterbahnverkehrs sowie diversifizierter Nutzergruppen, überflüssige Milliardenprojekte wie Stuttgart 21, Privatisierung und Verteuerung des Bahn- und öffentlichen Nahverkehrs, Verlagerung des Schienentransports auf die Straße sowie Erweiterung des Flugverkehrs und der Flughäfen. Dass mit einer solchen Verkehrspolitik der Be- statt Entschleunigung bereits bestehende Differenzen und Ungleichheiten zum Beispiel in Bezug auf Mobilitätschancen und Erreichbarkeit von Daseinsvorsorge nicht entschärft, sondern weiter vertieft werden, darauf hat schon seit längerem die feministische Verkehrswissenschaft hingewiesen. Alternative Mobilitätsformen wie nicht kommerzialisiertes Car Sharing, Car Pooling, Zweirad, Gemeinschaftstaxi, Gemeindebus usw. werden nur zögerlich und längst nicht in dem notwendigen Umfang gefördert – von einem verbilligten Bahn- oder gar kostenlosen Nahverkehr ganz zu schweigen.

Automobilisierung und die dafür notwendige Schaffung von Infrastrukturen wie die Implementierung kreuzungsfreier Autobahnen in Landschaften und Städte sind immer noch Ausdruck von Modernität und Modernisierungsgrad, von Wirtschaftskraft und Wohlstand eines Landes. Eine Welt ohne bzw. mit wesentlich weniger Kraftfahrzeugen scheint unvorstellbar, auch wenn die negativen Seiten der Automobilisierung wie Unfälle, Umwelt- und Luftverschmutzung, Erderwärmung, Lärmemission, Zersiedelung, Flächen- und Ressourcenverbrauch sowie ungleiche Mobilitätschancen längst überwiegen. Angesichts dieser Folgen, aber auch vor dem Hintergrund einer zunehmenden Verstädterung in asiatischen, afrikanischen und lateinamerikanischen Ländern sowie einer weiteren Spaltung zwischen urbanen Zonen des Wachstums und Zonen des Schrumpfens in Europa und in den USA, wird der individualisierte Automobilverkehr in der heutigen Form längerfristig nicht aufrechtzuerhalten sein. Um die mit einer einseitigen Ausrichtung auf das Automobil verbundenen Probleme konstruktiv anzugehen, müssen ganz andere Mobilitätskonzepte entwickelt werden als bislang. Möglicherweise ist es kein Zufall, dass Konzerne wie Porsche und Daimler in den letzten Jahren architektonisch spektakuläre Automobil-Museen gebaut haben und damit, bewusst oder unbewusst, auf eine sich bereits abzeichnende Historisierung des Automobils verweisen. Auch in Deutschland werden wir vom Aufstieg und Fall der Automobilindustrie in den USA, vom Niedergang Detroits, von „Katastrophen“ wie im Golf von Mexiko zu lernen und unsere, bei genauerem Licht betrachtet, irrationale Identifikation mit dem Auto zu verabschieden haben. Selbst wenn es noch nicht so deutlich zu erkennen ist: Mit dem 21. Jahrhundert ist das Ende der Zukunft des Automobils bereits eingeläutet. Auch die Autobahn wird dann über kurz oder lang zu einem Auslaufmodell.