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Ausstellung 2014

     

Stop and go und guck mal
Ulrich Land

Also, verehrte Staugemeinde, ich mache einen Vorschlag. Einen Vorschlag zur Güte: Tempo 30 auf der A40!

Hier meldet sich der Asphaltflüsterer ‚Stop and go‘. Danke, dass Sie mich eingeschaltet haben. Über den weiteren Reiseverlauf auf der A40 werde ich Sie rechtzeitig informieren.

Jeder im Ruhrgebiet hasst sie und jeder nutzt sie täglich. Sie trennt die Städte auf und verbindet sie gleichzeitig, ist Highway und Staumeile. Schlängelt sich zwischen den mondänen Machtzentren der „Ruhrmetropole“ hindurch, und kaum eine Hand voll Kilometer weiter wird sie flankiert von idyllischen Kleingartenanlagen, Shopping-Malls, gelangweilten Gewerbegebieten, Bergarbeitersiedlungen und Mietshausstaffeln. Im Grunde kann man sein Leben komplett und ausschließlich an der A40 bestreiten. Das einzige, was man über die Schallschutzwände hinweg kaum zu sehen bekommt, sind Fördertürme und Hochöfen. – Die Zeiten sind gründlich vorbei.

Mit ‚Stop and go – Ihrem persönlichen A40-Navi‘ brauchen Sie keine Verkehrsschilder, keine Zuflussregelung, keine Leitplanken. Ich schiebe für Sie die Lärmschutzwände zur Seite und sorge dafür, dass Sie rechts und links was zu sehen bekommen!

Ein immens hohes Verkehrsaufkommen mit bis zu bis 140.000 Kraftfahrzeugen pro Tag – fast dreimal so viel wie die durchschnittliche Verkehrsstärke auf deutschen Autobahnen – und eine extrem dichte Abfolge von Auf- und Abfahrten: Das ist der besondere Mix, der hier den Verkehr jeden Tag im Schnitt zweieinhalb bis dreieinhalb Stunden zum Stehen bringt. Tausende genervter Stauteilnehmer, die die Autobahnränder absuchen. Ein Dorado der Seitenblicke! Ein Dorado für alles, was man Kultur heißt.

Sie befinden sich auf der Standspur. Das ist kein straßenverkehrsordnungs- konformes Verhalten. Wenn Sie sich entspannen wollen, wählen Sie bitte den nächsten Stau!

Ich schlage also allen Ernstes Tempo 30 vor! Auf der gesamten Strecke, zu jeder Tages- und Nachtzeit.

Bitte beschleunigen Sie – jetzt!! Und halten Sie sich eintausendeinhundertdreiundvierzig Kilometer geradeaus. Auf der Erfolgsspur einer tausendjährigen Straße mit Namen Hellweg, der eine Unzahl von Fernhandelsfahrten und Heerzügen, Aufständen und Hausbesetzungen, von Umbauten, Unterbrechungen und Erweiterungen über sich hat ergehen lassen müssen. Erweisen Sie dem altehrwürdigen Vorläufer der A40 Ihre Reverenz und wählen Sie die Galoppgeschwindigkeit eines berittenen Boten.

30 km/h, und aus dem stockenden rasenden stocken Verkehrsfluss wird ein gleichmäßig gemächlicher Verkehrsstrom. Unfälle?: Fehlanzeige. Der CO2-Ausstoß nähme locker sämtliche Global-Warming-Einsparhürden, von Lärmbelastung keine Rede mehr, kaum noch Verkehrszeichen – außer „Höchstgeschwindigkeit 30“. Man würde an allen Ecken und Enden sparen wie‘n Weltmeister. Außer an der Zeit. Aber was ist schon Zeit! Einer Studie der Uni Münster zufolge kommen Autofahrer in NRW eh nur mit durchschnittlich 31,6 Stundenkilometern voran. Also bitte sehr.

Man könnte getrost den Blick über den Tellerrand des eigenen Gefährts wagen, über den Straßenrand. Man sähe Dinge, die man bekanntlich nicht sieht, wenn man mit hundert Sachen daherbraust oder fluchend stausteht und nur einen Blick für die Rücklichter vor einem hat und hofft, dass sie sich alsbald in Asphaltdunst auflösen möchten und man wieder fahren kann und fahren und fahren – um nichts zu sehn. Hätte man dagegen die unumstößliche Gewissheit, schneller geht‘s eh nicht, die Tachonadel weiß nicht, was jenseits der 30 kommt, und wird es nie wissen, dann sähe man statt Leitplanken und Schallschutzmauern „die Schönheit der großen Straße“.

‚Stop and go‘ öffnet die Tore des Duisburger Zoos, stutzt die Hecken der Schrebergärten, mistet die Nistzellen der Brieftauben aus. Lässt genau im Kaiserberger Spaghettiknoten, im Auge des Verkehrsorkans ein Biotop wuchern und direkt neben der Autobahn einen Ponyhof, ein Biogehöft, eine Fischfarm florieren. – Nehmen Sie bitte das Angebot zum Chillen jenseits der Leitplanke entgegen! Das wird Ihrer Konzentration höchst zuträglich sein.

Man würde, mit 30 km/h auf dem Bochumer A40-Stück längsschleichend, über diese merkwürdige Raststätte stolpern, die eigentlich keine ist, aber einfach da ist, wo man isst. Schnell zwischen den Stauwellen was zwischen die Kiemen! Käsebrötchen. Pott Kaffee für eins fuffzig. Eine Raststätte, obwohl in den einschlägigen Rasthofverzeichnissen keine zu finden ist und obwohl sie kein offizielles Autobahnschild als Raststätte ausweist – oder, oder doch? Bei Tempo 30, bei genauem Hinsehen erkennt man auf der 300-Meter-Entfernungsbake ein blaues Etikett mit Messer und Gabel. Das habe sie selbst, gibt die Raststättenwirtin hinter vorgehaltener Hand kichernd zu, habe sie selbst drucken lassen und in einer Nacht- und Nebelaktion draufgepappt. Und jetzt müsse sie mit ansehn, wie‘s Tag für Tag mehr verbleiche und verschleiße. Die verdammten Bürsten der Reinigungsfahrzeuge! Sie traue sich aber nicht, noch mal ein neues hinzukleben. Wegen der schlafenden Hunde und so. Man sähe, mit 16,2 Knoten vorbeischippernd, drinnen zwei Leuchtstoffröhren viel zu weißes Licht spenden. An der Wand das Foto einer Harley, bestückt mit Leuchtdioden, die flotte Fahrt bedeuten wollen. Eine mit fahrigem Filzstift bekritzelte und mit krummem Reißbrettstift an die Wand gepinnte Bratwurstpappschale, die Schnitzel im Brötchen für 2,75 € anpreist. Während bärbeißige Hinweiszettel an der Tür das Mitbringen von Speisen und Getränken verbieten.

Man sähe die zwei Glatzköpfe, die sich über dampfende Kaffeebecher hinweg in polnisches Fernfahrerlatein versenken, während am Tisch gegenüber in breitestem Revierplatt über den Stau gemeckert wird, der sich vor den Tempo-30-Zeiten hier immer vorbeiwälzte. Sähe in der Ecke den Stapel Bild-Zeitungen zur freien Verfügung, den einbeinigen Ventilator am Fenster, der die Klimaanlage vorstellt. Die handgeschriebene Speisetafel, die von Hand gekneteten Frikadellen, das handgespülte Geschirr. Man sähe das Ruhrpottprinzip schlechthin, das Prinzip „Bude auffe Ecke“ kurzerhand eigenhändig direkt an die A40 rangeholt!

Doch man wird sich sputen müssen, denn ein Ende des Idylls ist in Sicht: Spätestens, wenn mit den Bauarbeiten am Westkreuz bei Bochum Stahlhausen begonnen wird, vermutlich im Frühjahr 2011, wird der Autobahnanschluss der, sagen wir: Rastbude gekappt.

‚Stop and go‘ hat bei Ihnen eine vermehrte Ausschüttung von Stresshormonen festgestellt. Das Fahrspurhopping hat Ihrem Nervenkostüm augenscheinlich nicht unerheblich zugesetzt. ‚Stop and go‘ verordnet sofortigen Zwischenstop! Nächste Ausfahrt bitte rechts ab.

30 Kilometer auf dem Tacho und man sähe nicht mehr, wie rechts eine Institution der besonderen Art an die verblichene Montanindustrie erinnert. „Das bizarre Stahlwerk“ steht in dicken Lettern auf den mit feuerroten Werbeflächen abgehängten Fenstern zur A40 zu lesen. Hier werden nach eigenem Bekunden die Künste der „BDSM-Art“ gepflegt: „Bondage, dominance, sadism, masochism.“ Ein mittelständischer Betrieb: sechs Mitarbeiterinnen, nebst Webmaster und Handwerker. Die 48-jährige Studioleiterin trägt den schmucken Namen Carolin von Stahl. Und Minirock und Langarm-Body. Schwarz-rot, wie das gesamte Ambiente des Stahlwerks.Ketten, Handschellen und Stahlgestänge für fachmännische Fesselungen, Lackdecken und PVC-Boden für so genannte Dirty Games. Eine Kammertür weiter der rote Thronsaal mit Streckbank, motorisiertem Kreuz und fahrbarem Käfig. Dann das „Tor der Qualen“ mit einem Sklavenstuhl auf Rollen, das Zofenzimmer, ein bizarrer Friseursalon für Feminisierungsbemühungen – den speziellen Künsten sind keine Grenzen gesetzt. Es sei denn, der geplagte Kunde stößt das Wörtchen „Gnade“ aus. Dann wird ein Gang runtergeschaltet oder drei. „Denn die Leute“, findet Frau von Stahl, „die Leute, die hierher kommen, sind auch Menschen.“

Vielleicht sähe man, wie die Ladies, kurz bevor die Sonne glutrot hinterm A40-Horizont versinkt, das einzige nicht werbetafelverrammelte Fenster öffnen, über die Lärmschutzmauer hinweg die Aussicht auf die acht Meter entfernte Ruhrautobahn genießen und den Stauschleichern zuwinken. Wie sie sich freuen über jeden zähfließenden Verkehr; nicht ausgeschlossen, dass der eine oder andre den Verlockungen nicht widerstehen kann, einen etwas genaueren Seitenblick auf die schamroten Fenster wirft und abfährt.

„Nein“, sagt die künstlerische Leiterin des Etablissements, „nein, mit der Nachbarschaft gibt‘s keine Probleme. Auch nicht mit der Kirche gegenüber. Und wenn einer meckert, kommt er ans Kreuz. Hihi.“

Man sähe, dass tatsächlich die Bochumer Epiphanias-Kirche keinen Steinwurf entfernt ist. Mit ihren beiden bauhaus-sachlich-kantigen Siamesischen-Zwillings-Backsteintürmen steht sie da auf ihrer Insel mitten im Verkehrstumult der A40-Auffahrt und fungiert neuerdings als Autobahnkirche, als „geistige Raststätte“, wie es heißt. Direkt vis à vis der größten türkischen Disco Europas, des Schlachthofs und eines, sagen wir: normalen Bordells. Hätte man es bislang noch nicht kapiert, jetzt wüsste man: Das Leben an der A40 lässt nichts aus.

Vorsicht! Hinterm Spielplatz auf dem Dach des Bochumer A40-Tunnels befinden sich fußballspielende Kinder auf der Straße. Bitte anhalten, die Kinder einsteigen lassen und in die nächste Suchmaschine eingeben!

Wenn man aber die Schnauze voll hat vom behäbig gemächlich Dahintuckern, von all den Blicken und Seitenblicken, dann läute man eilends die Finissage ein, und die Kunstinstallation aus Starenkästen und Tempo- 30-Schildern wird flugs wieder abgebaut. – Aber‘n Versuch, geneigte Staugenossen, ’en Versuch war‘s doch wert.

Thank you for traveling with „Stop and go – Ihrem Asphaltflüsterer“.