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Roadmovie Ruhr

AB-DÜCKERWEG Ein Ort wie der Dückerweg gehört wie selbstverständlich zur Autobahn und ist hier trotzdem mehr als speziell. Neben der beschriebenen Teilung der sozialen Milieus, die die Autobahn besorgt hat, hat sich auf der Seite, wo D&W, einer der größten Tuningshops Deutschlands, traditionell mit viel nackter Haut und einer illusteren MIG vor der Tür wirbt, das Motodrom des Ruhrgebiets selbst installiert. Mit dem Tunermeeting, einem informellen Treffen derer, die ihre gesamte Zeit darauf verwenden, aus herkömmlichen Fahrzeugen individuelle Kleinkunstwerke herzustellen, hat sich hier eine Subkultur entwickelt, die im Ruhrgebiet eine einzigartige Rolle spielt.

Der Ort als klassische Gewerbeagglomeration aus versprengt dahin geworfenen Hallen zeichnet sich durch viele der Dinge aus, die Susanne Hauser bereits als „Ästhetik der Agglomeration“ beschrieben hat. Zwischen Autobahn und Schienenstrang nahezu isoliert wie auch im Herzen Wattenscheids gelegen, nutzt die Agglomeration eine typische städtische Restfläche, die im Zuge der Infrastrukturentwicklung entstanden ist. Wo zwischen den Verkehrskorridoren nahezu Landflucht herrscht, nutzt das Gewebegebiet die Nähe der Autobahn.

Die rudimentäre Zeichensprache der Gebäude erinnert dabei mehr an die mobilen Strukturen der Containerbahnhöfe denn an repräsentative Architektur. Die Ästhetik der Geschäftsstadt mit ihren großen Logos und Symbolen, die sich an der Rezeptionsfähigkeit der Hochgeschwindigkeitsklientel auf der Autobahn orientiert, entwickelt hier zudem Orte, die von außen längst nicht das versprechen, was man im Inneren findet. So stößt man bei Seats & Sofas in einem unscheinbaren Nutzbau auf das größte Panoramabild des Ruhrgebiets. Der sich pro Stockwerk über 3000 Quadratmeter erstreckende Verkaufsraum ist eingefasst von einer umlaufenden Unterwasserlandschaft, die per Öl in den Philippinen mit malerischem Können auf Leinwand gebracht wurde. Die dreidimensionalen Ausführungen, die auch das Innere des Raums in die Landschaft mit einbeziehen, setzen sich wie das Bild im 1. Stock raumordnungsfolgerichtig als Insellandschaft fort, um sich im 2. Obergeschoss in luftighimmlischen Höhen zu ergehen.

Neben den Drive-ins der Fast-Food-Ketten und einigen verbliebenen Wohnhäusern prägt aber die automobile Kultur wesentlich diesen Ort und legt eine differenzierte Betrachtung des Fahrzeugs und seiner immensen Bedeutung für die Stadtlandschaft nahe.

DAS AUTO ALS ZEITMASCHINE Die Wahrnehmung des Fahrers unterscheidet sich wesentlich von der des Fußgängers. Nicht nur die Geschwindigkeit bedingt eine andere Rezeption des Raums, sondern auch die besonderen Bedingungen des Fahrzeugs an sich. Entgegen der Wahrnehmung des Spaziergängers, dessen Blick ungebrochen und fließend über die Landschaft gleitet, fragmentiert das Fahren die wahrgenommene Umwelt in Bildern und Sequenzen. Sie werden entlang einer Mischung aus notwendigen Handlungen, freier Wahrnehmung und schweifendem Blick im Fahren gleich einem Film collagiert. Verkehrsspezifische Informationen (Kontrollanzeigen, Abstand zum Vordermann, Hinweisschilder) mischen sich mit den Bildern des Umraums (Landschaft, Stadtsequenzen, Reisende) sowie individuell eingespielten Informationen (Radio, Musik, Unterhaltung mit dem Beifahrer, Telefon). Die Fahrgastzelle wird zum Kaleidoskop multidimensionaler Kommunikationen und Bewegungen jenseits der klassischen Kontinuität von Zeit und Raum. Sie wird zur Montagemaschine, in der die fragmentierten Bilder und Informationen multipler, höchst heterogener Kontexte zusammengesetzt oder besser: verschmolzen werden. Der Wagen wird zur Wahrnehmungsmaschine, der Fahrer zum Surfer zwischen den Welten.

Dabei potenziert sich die Komplexität durch die multidimensionale Wahrnehmung auch des Raumes an sich. Die Maschine lokalisiert den Fahrer im Auge des Sturms der aufgelösten Kontinuität von Zeit und Raum, wenn sie vor ihm liegendes Zukünftiges und hinter ihm liegendes Vergangenes – beides als forthin Bestehendes – in die Aktualität des Fahrens über mannigfache Spiegelungen einblendet. Im Schnittpunkt dieser Hyperpräsenz von Geschichte, Gegenwart und Zukunft an ein und demselben, in Bewegung befindlichen Ort isoliert sie den Fahrer gleichzeitig vom realen Kontext des Raumes.

Die Fahrgastzelle ist nicht nur als mobile Vitrine, die in der Umkehrung des Blicks ihr Umfeld musealisiert, als Instrument der Dekontextualisierung relevant. Auch die Autobahn selbst bildet eine weitere Separierung und Sezierung von Kontexten. Während ihr Umfeld sie als empfindliche Zäsur der gewachsenen Lebenswelten wahrnehmen muss, reproduziert sie für den Fahrer die Wirklichkeit als Bild, als visuell flaches Ereignis. Das Leben hinter der Lärmschutzwand wird von der Autobahn zum Bild und Modell skaliert.

ROLLENWECHSEL Der Wagen besorgt also die Versetzung des Fahrers aus der Kontinuität von Zeit und Raum. In dieser Verschiebung befreit er ihn temporär von den Bedingtheiten der beruflichen und familiären Welt. Im Fahren erträumt sich ein von sich selbst befreites Individuum als dasjenige, das man gerne sein, aber nie bleiben möchte. Beim Einstieg ins Auto beginnt der Traum vom lustvollen Selbstverlust im Raum der Straße, wo die Namen nur Schall und Rauch und die Identitäten Verhandlungssache sind. An den ortlosen Orten der Motels, Rastplätze und Truckstopps treffen sich verschwiegene Paare, glücklose Spieler, verstohlene Helden und gelangweilte Handlungsreisende, um ihre möglichen Identitäten auszutauschen. Im Konvertieren vom Ich zum Anderen, in der Verwechslung des Fremden mit dem Eigenen zeigt sich das komplexe erotische Potenzial der Straße. Das abenteuerliche Ich kehrt von den Eskapaden im befreiten Raum der Highways zurück in die beruhigend klare Welt des Alltags.

ROADMOVIE RUHR Das Fahrzeug und die Sprachen der Straße bieten für diesen Rollenwechsel, dieses Spiel mit dem Selbst, ein voluminöses Vokabular. Wo der kurze Blick auf den Wagen, die Kleidung oder den Sticker im Fond eine ephemere Charakterstudie erlaubt, sind dem Spiel mit der Wahrheit zwischen Fakt und Fiktion Tür und Tor geöffnet. Die Straße wird zur großen Bühne der großen und kleinen Träume, zum Catwalk der mobilen Stadtgesellschaft.

Dabei unterhält der Wagen per se ein doppeldeutiges Verhältnis zum städtischen Raum. Bei der privaten Zelle, die sich durch den öffentlichen Raum bewegt, werden die Scheiben zur ambivalenten Demarkationslinie zwischen beiden Räumen, die die tiefe Bedeutung von Sichtbarkeiten für beide erläutern. „Steamy Windows“ wären vielleicht der illusterste Ausdruck für dieses Wechselspiel von Intimität und Öffentlichkeit, von privater und öffentlicher Sphäre und des verführerischen Spiels zwischen beiden im Spiegel des Individuums.

Dieses Verhältnis intensiviert sich, wenn sich beim Tunermeeting am Dückerweg die Türen öffnen und der private Raum der Fahrgastzelle sich nach außen kehrt und den Blicken der Fremden öffnet. Es beginnt nicht nur ein subtiles Spiel zwischen wahren, vorgestellten und inszenierten Identitäten, sondern auch zwischen Privatem und Öffentlichem. Beim Anhalten und Aussteigen auf dem Parkplatz wird das Auto wieder zum Ort – eines illustren wie heiteren, oft souverän komischen und überaus humorvollen Spiels mit sich selbst, dem Möglichen und dem Fremden. Dass dabei eben nicht die Stimmigkeit zwischen Bild und Person, sondern die Divergenz der Entwürfe entscheidend ist, verweist auf die Vielschichtigkeit der Szene. Die Akteure werden zu Regisseuren des eigenen Roadmovies Ruhr, die in ihren Regiestühlen die Straße säumen. Natürlich ist auch hier das selbst beauftragte Handeln von größter Bedeutung. Die Strategien der Tuner weisen vieles von dem auf, was die vernakuläre Landschaft so interessant macht. So beginnt der Spaß oft nicht gezielt, sondern in einem stetig wachsenden Interesse, das sich langsam und ungerichtet einen Weg sucht. Wenn aus einem Seat Arosa oder einem VW Bora ein barock-komplexes Konglomerat aus Chrom, Chamäleonlack und goldenen Spritzwasserbehältern wird, folgt der Macher meist erst spät einer gezielten Strategie. Mehr als die Hälfte des Weges, der nie zu Ende ist, legt er anhand wechselnder Interessen und Vorlieben zurück, die durch sein Umfeld mitbestimmt werden. Das Tuning gleicht oft einem „Derive“ durch die Welt des Automobils und nicht einem Masterplan. So entwirft sich das Meeting als informeller Ort einer informellen, kulturellen Praxis: denn sein Ziel ist nicht das Produkt, sondern die stetige Praxis an sich.